Willkommen

Ich darf mich als Betreiber dieser Seiten vorstellen:

 

Mein Name ist Hans See. Ich bin ein Politikwissenschaftler, der sich unter demokratietheoretischen, sozial- und klimapolitischen Aspekten mit Wirtschaftsverbrechen befasst. Mehr über mich verrät meine Vita.

 

Ich freue mich über die regelmäßigen Besucher dieser Seite, aber auch über diejenigen, die eher zufällig darauf gestoßen und noch nicht über die Grundideen, die hier vertreten werden, informiert sind. Ich sehe auch in Ihnen mögliche Interessenten für das auf dieser Website im Zentrum stehende, lokal-, national- wie weltpolitisch gleichermaßen bedeutsame Problem der Verbrechen, die ich Wirtschafts- bzw. Kapital-Verbrechen nenne.

In ihrem schwer durchschaubaren Zusammenwirken bilden sie ein illegales Wirtschaftssystem, das ich als Untergrundkapitalismus bezeichne, der ein Komplementärsystem zum legalisierten Kapitalismus ist. Danach gibt es eine kriminelle und eine legale Ökonomie. Dazwischen eine nicht minder gefährliche Grauzone. Wie diese Ebenen zusammenarbeiten, sich beeinflussen, auf die Lebensbereiche einwirken, lässt sich meist nur an Symptomen erkennen. Um zu zeigen, was ich damit meine, habe ich einen Newsletter eingerichtet, den man sich (über die obige Leiste anklickbar) kostenlos zusenden lassen, aber auch jederzeit wieder abbestellen kann.


Meine Zielvorstellung ist es, dieses Portal zu einer möglichst umfassenden, für interessierte Laien, meist Opfer, wirtschaftskritische Nichtregierungsorganisationen, Sozialwissenschaftler und kritische Journalisten unentbehrlichen Informationsquelle über das Thema zu machen, das ich "kriminelle Ökonomie" nenne. Es gilt vor allem, deren demokratiefeindliche Ergänzungsfunktion zur legalen Ökonomie der kapitalistischen Demokratien aufzuzeigen, die selbst schon destruktiv genug sind.

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Die Seiten sind noch im Aufbau begriffen. Aber es liegt auch in der Natur der Sache, dass die hier veröffentlichten Darstellungen, Analysen und Lösungsvorschläge kein in sich ruhendes, fertiges Theoriegebäude sein können, sondern schon während des Aufbaus auch Umbauten erforderlich werden. Möglichst zeitnah, aber spätestens dann, wenn die sich oft schnell und überraschend ändernden Verhältnisse es geraten erscheinen lassen, werde ich versuchen, realitätsnahe Erklärungen zu liefern.

 

Wer sich bisher noch nie oder nur am Rande für das Problem Wirtschaftsverbrechen bzw. kriminelle Ökonomie interessiert hat, aber beabsichtigt, tiefer in die Materie einzudringen, mehr davon zu verstehen, als es die kapitalhörigen Kriminologen und die Konzerne der Meinungs-Industrie für erforderlich halten, sollte sich die Zeit nehmen, erst einmal - möglichst mit erhöhter Aufmerksamkeit - den folgenden Text zu lesen:

 

 

Wissenschaft am Tropf der Wirtschaft

 

Das sozialwissenschaftliche Interesse am Thema Wirtschaftsverbrechen ist erschreckend gering. Für mich ist das einer von vielen deutlichen Hinweisen auf die traditionell sozialmentale und - zunehmend - auch materielle Kapitalabhängigkeit des freiheitlich-demokratischen Wissenschaftsbetriebs. Es waren vor allem glückliche Umstände, die es mir ermöglichten, zu diesem Problemkomplex allmählich eine eigene Meinung entwickeln und sie dann auch noch öffentlich vertreten zu können. Allerdings zu einem relativ hohen Preis.

 

Seit Jahren schon findet mein kriminalwissenschaftlicher Kritikansatz nicht einmal mehr bei jenen wenigen Medien Resonanz, die in den ersten beiden Jahrzehnten meines Wirkens noch halfen, meine bürger- und menschenrechtlich sowie sozialökologisch ausgerichteten, zugegeben betont wirtschaftskritischen, Analysen über die sie ignorierende Fachwelt hinaus verbreiten zu helfen.

 

Hier nun erweist es sich, bei aller berechtigten Kritik an den "sozialen Netzwerken", die sich - wie inzwischen nicht mehr bewiesen werden muss - auch als "asoziale Hetzwerke" instrumentalisieren lassen, dass dieses Medium unabhängigen Wissenschaftlern letzte Möglichkeiten bietet, an den kommerz- und wirtschaftsfrommen Filtern und Schleusen der freiheitlich-demokratischen Öffentlichkeit vorbei auch unliebsame gemeinnützige Aufklärungsarbeit zu leisten.

 

Wie lange kapitalkritische Portale wie dieses noch im Internet geduldet werden, weiß ich nicht. Das wird entscheidend davon abhängen, wie klug die Portalbetreiber selbst, aber auch die Rezipienten dieser spezifischen Form der "Aufklärung", mit ihren daraus gewonnenen Erkenntnissen umgehen. Ich werde an anderer Stelle erklären, weshalb ich die Aufklärung über Ursachen, Entwicklungen und Folgen von Wirtschaftsverbrechen als "Dritte Aufklärung" bezeichne. Hier nur so viel zum Vorverständnis:

 

Die bürgerliche (kapitalistische) Aufklärung, für die in Deutschland Immanuel Kant steht, und die proletarische, deren Klassiker Marx und Engels sind, haben in ihren emanzipatorischen Aufklärungs- und daraus abgeleiteten Gesellschaftsmodellen das Thema Wirtschaftsverbrechen ausgeblendet. Daher haben weder der Kapitalismus (auch nicht der demokratisch-sozialstaatliche), noch der kommunistische Staatssozialismus ihre universalististisch-humanistischen Versprechen einlösen können.

 

Weder das Vertrauen in die Marktkonkurrenz, die "unsichtbare Hand" und die demokratisch legitimierten Rahmengesetze, noch die planwirtschaftlichen Vorgaben eines Staatssozialismus, waren und sind geeignet, den Missbrauch wirtschaftlicher Macht zu verhindern. Um einsichtig zu machen, was Wirtschaftsverbrechen sind und wie sie auf die jeweiligen Wirtschaftssysteme einwirken, müssen sie studiert und analysiert werden. Hier eine kurze Übersicht:

 

Ich unterscheide drei Grundformen, man kann auch sagen, tragende Säulen, von Wirtschaftsverbrechen: Nämlich Wirtschaftskriminalität, Organisierten Kriminalität (OK) und aktive Bestechung. Ich hebe die aktive Bestechung besonders hervor, weil seit 1993 das von den Weltbankmanagern Peter Eigen (D) und Robert McNamara (USA) sowie anderen namhaften Topmanagern ins Leben gerufene und von Konzernen unterstützte, also wirtschaftsnahe Antikorruptionsnetzwerk Transparency International (TI) die öffentliche Aufmerksamkeit mit dem Wischi-Waschi-Begriff "Korruption" auf sich zieht und fesselt. Seitdem werden fast nur noch diejenigen kritisiert, die bestochen werden bzw. sich bestechen lassen.

 

Wenn Sie aus dem Stand die Personen oder Firmen nennen können, mit denen die CSU-Abgeordneten ihre lukrativen Maklergeschäfte in Sachen Anit-Corona-Masken gemacht haben, sind sie besser informiert als die breite, Zeitung lesende, Radio hörende oder Talkshows sehende Öffentlichkeit. Sie nennen die Namen dieser Firmen und ihrer Eigentümer nicht. Umso häufiger die Namen der Abgeordneten, die Geld genommen haben, also ob das geben keine Straftat wäre.

 

 

Aktive Bestechung - Attacken gegen die Demokratie

 

Es liegt auf der Hand, dass Bestechung nicht um ihrer selbst Willen stattfindet und hauptsächlich von denen ausgeht, die über viel Geld und andere wirksame Machtmittel verfügen, die es ihnen ermöglichen, sich über alle Hindernisse, also auch geltende Gesetze, wenn sie lukrative Geschäfte behindern, hinwegzusetzen. Die das tun, sind - gemäß ihrem Betriebszweck - in der Regel Unternehmen, also Unternehmer bzw. die mit unternehmerischen Vollmachten ausgestatteten Angestellten, die Manager.

 

Die Bestochenen sind, wenn es um Geschäfte zwischen Privatwirtschaft und öffentlichen Auftraggebern oder um Genehmigungen für die Privatwirtschaft geht, Parteien, Politiker, Beamte. In gutem Amtsdeutsch: Amtsträger.

 

Wenn diese ihrerseits Geld für Aufträge fordern, erfüllt das nicht den Straftatbestand der Bestechung, weder der aktiven noch der passiven, sondern der Erpressung. Doch dieses Problem bleibt in den Debatten und wissenschaftlichen Studien über "Korruption" unerwähnt. Man sollte sich aber klarmachen, dass die Bestechungssummen (oder andere geldwerte Geschenke) meist nur beim erstenmal Schmiermittel sind. Wird die Zahlung fortgesetzt, handelt es sich eher um Schweigegeld. Unternehmen zahlen Bestechungsgelder, um die enormen Wettbewerbsvorteile von Gesetzesbrüchen möglichst ungehindert und unentdeckt zu nutzen. Möglichst, um ihre Verbrechen mit Hilfe der Kontroll-Instanzen, die Gesetzesbrüche eigentlich verhindern müssten, unentdeckt in die Tat umsetzen zu können.

 

Das aber heißt: Demokratische Kontrollsysteme werden durch aktive Bestechung außer Kraft gesetzt. Nahezu jede aktive Bestechung ist eine Widerlegung der herrschenden Wettbewerbsideologie, ein Angriff gegen das geltende Recht und damit ein Angriff auf die Grundlagen letztlich jeder Form von Demokratie. Diese sich täglich neu bestätigende Beobachtung begründet meine These, aktive Bestechung sei integraler Bestandteil der Wirtschaftskriminalität, sei zugleich ein Angriff auf Mensch und Natur, Demokratie, Staat und Kultur, illegales Marketing. Und damit - nach Krieg und Terrorismus - eine der gefährlichsten aller Arten von Kriminalität, nämlich der Kauf der Demokratie.

 

Es bleibt dies zunächst - trotz aller Beweiskraft der beobachtenden Praxis - nur eine auf wenige, allerdings schwer zu widerlegende Beispiele gestützte, These. Dass diese es in dieser bewusst zugespitzten Wertung nicht (man muss sagen nicht mehr) in die Schlagzeilen selbst kritischer Zeitungen und schon gar nicht in Talkshows schafft, auch nicht in die der öffentlich-rechtlichen Sender, hat nachweislich mit der durch das Privatfernsehen übermächtig gewordenen kapitalfrommen Meinungsbildungs- und Kulturindustrie zu tun.

 

Kritik an der Wirtschaft funktioniert zwar noch, wenn sie nicht mit der Forderung verbunden wird, statt der üblichen Compliance, das heißt der Selbstverpflichtung des Unternehmen, geltendes Recht zu beachten, oder statt der Forderung nach schärferer Bestrafung der Verantwortlichen, einfach nur ein wirksames demokratisches Kontrollsystem einzuführen, dass nicht nachträglich bestraft, sondern vorsorglich verhindert. Mein Stichwort dazu: Kriminalpräventive Mitbestimmung. Für demokratische Staaten existiert sie mehr schlecht als recht. Dafür gibt es kritische Medien, Oppositionsparteien, Untersuchungsausschüsse und einiges mehr. Für die Machtzentren der Wirtschaft existieren solche Kontrollen nicht, trotz Mitbestiimmungsrechten der Arbeitnehmer und Gewerkschaften, trotz Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, trotz Bafin und vieler anderer Kontrollinstanzen.

 

 

Kapitalhöriger Missbrauch der Meinungs- und Kultur-Industrie

 

Der gigantischen Maschinerie der Meinungsproduktion gelingt es inzwischen, die Grundstimmung der

Bevölkerung in Richtung Abschaffung der so genannnten "Zwangsgebühren" für die öffentlich-rechtlichen Sender zu manipulieren. Noch ist es glücklicherweise den Privatmedien nicht gelungen, nicht einmal in der Schweiz, wo es versucht wurde, die Mehrheit der Bevölkerungen so zu verdummen, dass sie für die Abschaffung der Gebühren stimmen. Denn diese wäre das Ende der ohnedies hochgradig gefährdeten Meinungsvielfalt. Die aber ist wie kapitalunabhängiger Journalismus, der sie garantiert, notwendig und kann - wenn auch in beklagenswert engen Grenzen - nur von den öffentlich-rechtlichen Medien überhaupt am Leben erhalten werden.

 

Dass inzwischen hinterhältige Versuche unternommen werden, die öffentlich-rechtlichen Sender auszuschalten, es wird auch von Zusammenlegung gesprochen, lässt erahnen, welche enormen Kräfte im Hintergrund daran arbeiten, auch noch die letzten kritischen Stimmen auf Kapitalkurs zu trimmen. Selbst die pseudokritische Aufklärung dieser Institutionen über den Machtmissbrauch des Kapitals gehen vielen Türhütern schon zu weit. Wenn, dann wird Kapitalismuskritik noch von einigen wenigen Kabarettisten, sogar zu besten Sendezeiten, verbreitet.

 

Investigativer Journalismus und kapitalkritische Wissenschaft, die in ehren- und unterstützenswerten Resten noch vorhanden sind, neuerdings - wegen der massiven Vorwürfe von Linken  und Rechten, die die Mainstream-Medien als "Lügenpresse" attackieren - sogar wieder häufiger zu Wort kommen, sollen aus verschiedenen Gründen doch möglichst neutralisiert werden. Vor allem, wenn sie dazu neigen, das subversive Zusammenwirken verschiedener Ebenen und Formen krimineller Wirtschaftsakteure in Weltkonzernen und nationalen Regierungen aufdecken.

 

Zum Glück liegt Kritik an Wirtschaftsdelikten durchaus auch im Interesse des Kapitalisten, vor allem des Kapitalisten, der sich noch an die geltenden Gesetze hält. dem seine Konkurrenten direkt oder indirekt schaden, weil sie gegen Wettbewerbsregeln verstoßen und sein Kapital gefährden. Wissenschaftler haben also keine Probleme mit dem Thema Wirtschaftskriminalität, wenn sie beauftragt werden, die Schäden zu untersuchen, die Kapitalisten anderen Kapitalisten zufügen, was vor allem im Bereich der Kapitalanlagen der Fall ist. Denn der Kapitalist darf seine Konkurrenten nur im Rahmen der geltenden Gesetze, nicht mit gesetzwidrigen Methoden enteignen. Auch die Kritik am Steuerbetrug und an der zwar nicht strafbaren, aber moralisch verwerflichen Steuervermeidung der Konzerne (im Gerede sind derzeit Amazon und Facebook, aber die Vorwürfe gegen diese treffen auf fast alle anderen zu) hat in den seit der Wiedervereinigung vergangenen Jahre merklich zugenommen.

 

Das System einer kriminellen Ökonomie, man darf sagen "Weltökonomie", das sich aus den massenhaften Gesetzesbrüchen vor allem der global tätigen Wirtschaftsunternehmen entwickelt hat, ist nach wie vor ein blinder Fleck nicht nur der verschiedenen dafür zuständigen Wissenschaften, sondern auch großer Teile der Medien. Sie kennen nur Einzelfälle. Ein besonderes Problem ist es, dass sich Wirtschaftsverbrechen immer weniger aus lokaler oder nationalstaatlicher Perspektive erfassen lassen. Ihre wissenschaftliche Erforschung, aber auch ihre journalistische, erfordern eine Weitsicht und einen Aufwand, den nur noch Konzerne selbst aufbringen und bezahlen können.

 

Hier aber stoßen Erkenntnis und Aufklärung auf die Grenzen des Systems. Allenfalls schaffen es noch, wenn überhaupt, einige globalisierungskritische Nichtregierungsorganisationen wie die "Coordination gegen Bayer-Gefahren" und "medico international", wenn auch nur mit bewusster Schwerpunktsetzung, Konzernverbrechen angemessen ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Aber deren Sprecher sucht man in den massenmedialen Gesprächsrunden vergeblich des öffentlich-rechtlichen Fernsehens vergeblich.

 

 

Untergrundkapitalismus als Komplementärsystem der Legalwirtschaft

 

Ich spreche von einer - übrigens rapide zunehmenden - wechselseitigen Durchdringung von Wirtschaftskriminalität, Organisierter Kriminalität und aktiver Bestechung und fasse das Konglomerat mit dem Sammelbegriff Wirtschaftsverbrechen zusammen. Die - auch durch bestehende Strafgesetze - daran beteiligten, sinnvollerweise zu unterscheidenden Verbrechensarten bilden als Ganzes "ein System". Es lässt sich als ein mit dem legalisierten Kapitalismus teils konkurrierenden, ihn aber auch ergänzenden Untergrundkapitalismus verstehen, der zum legalisierten "freiheitlichen" Kapitalismus gehört, sozusagen ein offiziell Komplementärsystem ist. Es kann sich deshalb so gut entfalten, weil es alle vom Gesetzgeber verbotenen Geschäfte im Untergrund relativ risikofrei dennoch möglich macht.

 

Die kriminelle Ökonomie ist also das Schlachtfeld, das von vielen Kapitaleignern als notwendige Ergänzung der von ihnen als überreguliert kritisierten Märkte betrachtet wird. Sie werden für notwendig oder unvermeidlich gehalten, um investitions- und "geschäftsschädigende" staatliche Regulierung zu umgehen.

 

Der staatliche Schutz von Eigentum, Leib und Leben (für Kapitaleigner, Verbraucher, Natur etc.) kann aber nicht - wie die meisten eingeredet bekommen und es auch zu glauben scheinen - mit Verschärfungen des Wirtschaftsstrafrechts, nicht mit der üblichen - der Tradition des Liberalismus verhafteten - Staats-, Demokratie- und Parteienkritik bekämpft werden. Der Untergrundkapitalismus muss als Medium der längst in vollem Gang befindlichen subversiven Konterrevolution erkannt werden. Diese wird mit dem Begriff der Globalisierung des Neoliberalismus nur unzulänglich beschrieben und daher meist nicht als solche erkannt. Hier helfen weder Bürokratie, die so manches Problem zu lösen vermag, noch die Psychiatrie (mit der es im Rechts-Staat Bayern im Fall Gustl Mollath versucht wurde). Hier hilft nur Wirtschaftsdemokratie, und zwar eine, die die Konzerne schon in der Entscheidungsphase, die den Gesetzesbruch beschließt, wirksam kontrolliert.

 

 

Die Demokratiefrage muss neu gestellt werden

 

Die Forderung nach "mehr Demokratie" hilft keinen Schritt weiter, wenn sie nichts weiter als mehr demokratische Kontrolle des Staates durch Opposition, kritische Medien und freie Meinungsäußerungen einzelner Persönlickeiten meint. Manche glauben an die Herabsetzung des Wahlalters. Andere an Frauenquoten. Das alles kann man zum Gesetz erheben, aberes ändert nichts an den Eigentums- und den damit verbundenen realen Eigentums- und Machtsverhältnissen.

 

Im Rahmen der kapitalistischen Demokratien kann dies sogar bedeuten, dass der Staat noch hilfloser gegenüber den Konzernen gemacht wird, als er ohnedies schon ist. Kapitalistische Demokratien sind nämlich - was Demokratieforscher erstaunlicherweise immer wieder außer Acht lassen - begrenzt auf das Kontrollbedürfniss derer, die über Kapital verfügen. Kapitaleigner akzeptieren bekanntlich nur eine Demokratie, die die Freiheit "des Kapitals" (des kapitalistischen Eigentums) schützt. Sie nennen das "unvollkommene" Demokratie.

 

Mit der "unvollkommenen" Demokratie ist liberale, allenfalls sozialliberale Demokratie gemeint, die nicht der Wirtschaftsgewalt, sondern der jeweiligen Staatsgewalt Grenzen setzt. Denn dies neigt in Demokratien dazu, private Eigentumsfreiheiten zum Wohl der Allgemeinheit und der Natur einzuschränken. Wenn, dann darf das der Staat oft nur unter kaum zu überwindenden Voraussetzungen. Die Corona-Pandemie hat diese Schwierigkeiten unvermeidlich offengelegt. Schwäche gegenüber der Privatwirtschaft ist Voraussetzung einer freiheitlichen Demokratie. Die diese Schwäche fordern, fordern zugleich den starken Staat, wenn es darum geht, die Not und die Wut derer einzudämmen, die durch die Auswirkungen des monopolisitschen Konzernkapitalismus  verursacht werden.Das sind die Merkmale, den bürgerlichen, den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, kennzeichnen.

 

Daher gibt es für Staatsanwaltschaften in vielen Fällen auch keine gesetzliche Handhabe, gegen gemeingefährliche Bereicherungspraktiken vorzugehen, selbst wenn diese es für nötig erachten. Letzte Hürde ist die Weisungsgebundenheit der Staatsanwälte an ihren zuständigen Minister. Wenn also die weit verbreitete und im Prinzip richtige Forderung nach "mehr Demokratie" für effektiven demokratischen Fortschritt stehen soll, muss sie die Ausdehnung demokratischer Kontrollmacht über den Staat hinaus anstreben, muss sie demokratische Kontrollinstanzen gegenüber den übermächtig gewordenen Konzernen erkämpfen. Dass dazu die Mitbestimmungsrechte der Gewerkschaften nicht geeignet sind, hat sich immer wieder (zuletzt bei den Abgasmanipulationen der Autokonzerne) gezeigt, Das bedarf keiner besonderen Beweise. Es muss nur betont werden, dass diese Mitbestimmung nicht in Frage gestellt werden sollte. Sie ist notwendig und ausbaufähig, bedarf allerdings selbst - soweit es die strafrechtliche Dimension der Unternehmenspolitik angeht - zusätzlicher demokratischer Kontrollen.

 

 

Westliche Demokratien sind kapitalistische Demokratien

 

Die so genannten westlichen, freiheitlich-demokratischen, repräsentativen, parlamentarischen und auch als wehrhaft bezeichneten Demokratien sind faktisch alle vom selben Typ: Es sind kapitalistische Demokratien. Parteien dürfen daher, wenn sie die Interessen der Konzerne beachten und - wo dies nötig erscheint - auch konsquent durchsetzen, auf ideologische und materielle Unterstützung durch die Kapitalseite und deren Propagandisten in Medien, Wissenschaften und Kulturindustrie hoffen. Parteien, die glauben, die Macht der internationalen Konzerne einschränken zu müssen, werden sehr schnell als Feinde der Demokratie denunziert, diskriminiert und isoliert.

 

Natürlich versuchen die Verteidiger der Kapitalmacht, die "Feinde der Demokratie" in einen Topf zu werfen. Allerdings macht es einen großen Unterschied, ob die rechten Demokratiefeinde die Demokratie abschaffen und durch einen diktatorischen Führerstaat ersetzen oder die linken Demokratiefeinde die bestehende Demokratie erweitern, also die demokratiefreien Zonen der Wirtschaft in die Kontroll- und Entscheidungsrechte einbeziehen wollen. Die Rechten versuchen ihr Ziel durch die Wiederbelebung nationalistischer und rassistischer Ideologien zu erreichen, faktisch durch eine autarke Wirtschaft zu erreichen, was bei der hochgradigen internationalen Arbeitsteilung und Konzernveflechtung faktisch unmöglich ist. Wie sich unter dem so genannten Natinalsozialismus gezeigt hat, muss man die Welt erobern, unterwerfen und ausrauben, um ein solches Ideal verwirklichen zu können.

 

Von den Linken kennen wir die Forderung nach Vergesellschaftung der in privaten Händen liegenden Produktionsmittel. Die riesigen unterentwickleten Länder Rußland und China haben nach ihren sozialistischen Revolutionen diesen Versuch unternommen, und ihre kommunistischen Führungen glaubten tatsächlich, auf diese Weise die Entwicklungsstufe des Kaopitalismus überspringen zu können. Es hat sich aber gezeigt, dass sie - wenn auch unter kommunistischen Vorzeichen - mit ihren Parteidiktaturen das nachgehölt haben, was unter rechten Diktaturen kaum möglich gewesen wäre: Sie haben ihre Länder durch gewaltsame Umgestaltung, Elektrifizierung, Alphabetisierung, Modernisierung - trotz der Interventionen der kapitalistischen Demokratien - mit diesen auf Augenhöhe gebracht. Sie vor dem Ausverhauf an die westlichen Imperialistem geschützt.

 

Deshalb ist die Alternative zum sozialliberalen Kapitaldemokratismus, zu den als regierungsfähig geltenden Parteien, die sich als "politische Mitte" definieren, nicht die antidemokratische, autoritäre, illiberale Demokratie, sondern ein an den Entwicklungsbedingungen der Staaten und Gesellschaften, die wir kapitalistische Demokratien nennen, angepasster, von demokratischen Mehrheiten gestützter und geschützter demokratischer Sozialismus, statt kapitalistische sozialistische Demokratien.

 

Besonders infam und demagogisch ist die mit den Abwehrkämpfen dieses Sozialismus einhergehende Gleichsetzung von "links" und "rechts", die die Fundamentalisten der kapitalfrommen Mitte - wie man täglich überprüfen kann, nicht ohne alarmierende Erfolge - zur vorherrschenden Meinung zu machen versuchen.

 

Wer verstehen will, weshalb, trotz dieser Gleichsetzung von "links" und "rechts", die populistische Demagogie der gemeinsten Art ist, und weshalb bisher meist die Rechten gegen die Linken siegen, wenn auch nur in Ausnahmefällen und auf Zeit mit Hilfe faschistischer Diktaturen, der darf die Rolle der Wirtschaftsverbrechen in diesem noch längst nicht in seinem höchsten Entwicklungsstadium angelangten Prozess der Globalisierung des Kapitalismus auf keinen Fall ignorieren. Dass vor allem sich als "Linke" verstehende und als Linke auftretende Sozialwissenschaftler und Politiker sich diesem Themenfeld fernhalten oder nur mit größter Vorsicht nähern, zeigt, dass es sich um ein Minenfeld handelt, das in dem im Kalten Krieg erzeugten und noch immer nachwirkenden politisch-ideologischen Klima des antisozialismus und antikommunismus persönliche Karrieren vernichtet und Wählerstimmen kostet.

(Bis hier wurde der Text leicht überarbeitet. 21.4.2021)

 

Das Ende der bipolaren Weltordnung und die Folgen

 

Dass Wirtschaftsverbrechen in den vergangenen 25 Jahren zunehmend auf öffentliches Interesse stoßen, kann vor allem damit erklärt werden, dass die  Welt nun (bis auf wenige Nischen) kapitalistisch ist und der Kampf zwischen Kapitalisten (vor allem gesetzestreuen und kriminellen) globale Dimensionen angenommen hat. Dies ist richtig, obgleich die Gesetzgeber noch immer auf ihrer nationalen Souveränität bestehen. Dieser Widerspruch schafft rechtsfreie Räume, die von skrupellosen Kapitalisten und solchen, die es werden oder bleiben wollen, auch gegen andere Kapitalisten und solche, die es noch werden möchten, ausgenutzt werden. Ein Großteil der kaum noch zu lösenden Probleme lässt sich demnach auf den Widerspruch zurückführen, der mit dem Beharren der Herrschenden Klassen auf nationaler Souveränität und ihrer internationalistisch-finanzkalitalistischen Praxis unauflöslich ist. Außerdem ist der Klassenkampf, der über Generationen zwischen "nationalistischen Sozialisten" und "Internationalistischen Kommunisten" klare Fronten geschaffen und über die Jahrzehnte des Kalten Krieges eine bipolare Weltordnung hervorgebracht hatte, seit dem Ende des Kalten Krieges zerstört. Der hatte beiden Seiten die Gewissheit gegeben, die Guten zu sein, deren historische Aufgabe es sei, die anderen, die Bösen, von ihrem System zu überzeugen, vom eigenen aber zu erlösen.

 

 

Kann Klassenkompromiss ohne kommunistische Gefahr überleben?

 

Der Prozess der Spaltung der kapitalistischen Gesellschaften in Gegner und Verteidiger des Kapitalismus, der zunächst die antikapitalistischen Kräfte erstarken ließ, wurde erstmals rabiat unterbrochen und unterdrückt, als die herrschenden Klassen sich entschlossen, dem fanatischen Antikommunisten und Judenhasser Adolf Hitler die Macht zu überlassen. Das Ergebnis ist bekannt. - Nach dem Ende des Kalten Krieges zeigte sich - vor allem jenen, die erst nach dem Fall der Mauer Erwachsen wurden - dass der Antikommunismus, der fast 200 Jahre lang das bewährteste Intergrations-, besser gesagt Bindemittel des modernen Nationalismus war, seine gemeinschaftsbildende Wirkung fast völlig eingebüsst hat. Der Antikommunismus war es auch, der nach dem Zweiten Weltkrieg - angesichts des wachsenden Einflusses der UdSSR - die Nationalisten des freien Westens erst einmal verstummen, ja teilweise sogar zu überzeugten Europäern und Internationalisten werden ließ. Freilich zu Freunden des Internationalen Finanzkapitals, nicht des demokratischen Internationalismus. Die Nazis hatten den Deutschen und aller Welt die Irrationalalität des Nationalismus vor Augen geführt. Doch es waren die Internationalisten des Kapital auf der einen und der Arbeit auf der anderen Seite, die die Einsicht in die Notwendigkeit förderten, nicht länger auf die nationalistischen Kapitalisten zu bauen. Nur so konnten die NATO und, die Bretton Woods Institutinen und die Europäische Union zum antikommunistischen und imperialistischen Bollwerk ausgebaut werden. Gegen den Ostblockkommunismus konnten die demokratischen Antikapitalisten und die Verteidiger des Kapitalismus, den sie als soziale Marktwirtschaft auch für Arbeiter einigermaßen attraktiv zu machen verstanden, zu jenem Klassenkompromiss finden, der seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Durchsetzung dessen, was selbst der neoliberale Bundeskanzler Helmut Schmidt als "Raubtierkapitalismus" kritisierte, wieder in Auflösung begriffen ist. Dass damit die Klassenfrage neu gestellt wird, führt selbstverständlich zur Re-Animation der Rassenfrage.

 

Kassen-, Klassen- und Rassenfrage

Dass Hitler nicht nur fanatischer Antikommunist und Antisozialist, sondern auch Antisemit und felsenfest davon überzeugt war, dass der Bolschewismus eine Erfindung des jüdischen "raffenden" Kapitals sei, um die Weltherrschaft der deutschen bzw. "arischen Herrenrasse" zu verhindern, wurde bei seinem Aufstieg teils übersehen, teils unterschätzt, von vielen "arischen Unternehmern" aber auch mit Genugtuung und Sympathie zur Kenntnis genommen und zunehmend aktiv unterstützt. In diesem Kontext sind ungeheuerliche Wirtschaftsverbrechen begangen worden, die nach 1945 aufgrund der Konfrontation mit dem Ostblockkommunismus, die den Antikommunismus nun vom Antisemitismus trennte, trotz der nachhaltigen Gedenkkultur, nie wirklich aufgearbeitet, nie wirklich gesühnt wurden. Dies ist eine tiefe Wunde, die nicht heilen will, ja - wie der wieder wachsende rassistische Nationalismus belegt - bei jeder ökonomischen Krise - die sich inzwischen nahezu lückenlos aneienderreihen - wieder zu eitern beginnt.

 

Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs wurden die Arbeiterbewegungen ganz Europas, die bis dahin die inneren Feinde der kapitalistischen Gesellschaften und als solche auch (nicht nur durch Bismarcks Sozialisten- und Sozialgesetze) bekämpft worden waren, mit äußeren Feinden, die sich die herrschenden Klassen selbst gemacht hatten, zur Stärkung der Nation domestiziert. Das heißt, sie wurden integriert, ihr entwickeltes Klassenbewusstsein wieder unterminiert. Die Oktoberrevolution wurde von den linken Sozialdemokraten, die den "Burgfrieden" als den Anfang von Ende der revolutionären Arbeiterbewegung betrachteten, zum Spaltpilz. Sie gründeten eine eigene, eine Kommunistische Partei, die nun nicht mehr nur den Kapitalismus, sondern - mindestens ebenso vehement - den Reformsozialismus und Sozialdemokratismus, genauer, dessen Opportunismus bekämpfte. Da sich die Kommunisten mit der UdSSR identifizierten, wurde die KPD in einem doppelten Sinn zum innenpolitischen Feind, nämlich als Verbündeter einer feindlichen Nation und Verfechter einer freiheitsfeindlichen Ideologie.

 

Der schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs mit dem so genannten "Burgfrieden" begonnene Integrationsprozess hat mit der Spaltung der Arbeiterbewegung nach der Oktoberrevolution eine selbstmörderische Weichenstellung verursacht, die heute den euphemistischen Namen "Sozialpartnerschaft" trägt. Sie war ein Klassenkompromiss, dessen Fundament der Antikommunismus war. Seit Ende des Kalten Krieges spielt jedoch der Antikommunismus in den Köpfen der Massen eine immer geringere Rolle. Daher die - für jeden erkennbar - wachsende Angst der "Volksparteien", gänzlich unterzugehen. Der bisher durch Antisozialismus und Antikommunismus künstlich erzeugte "Zusammenhalt der Gesellschaft", dessen tragende Säule die "Sozialpartnerschaft" ist, kann ohne den einst bewährten Feind Kommunismus nicht bestehen.

 

Im Klartext heißt das für die Kapitalstrategen, dass die Klassenkämpfe schon bald wieder ausbrechen und das Klassenbewusstsein auf Seiten der Arbeiter wieder erwachen, also die Kapitalmacht erneut in Frage stellen könnten. Dass das Klassenbewusstsein der Kapitalistenklasse selbst immer wach geblieben ist, erklärt ihren unaufhaltsam erscheinenden Siegeszug. Der politische Arm der Klasse des Weltkapitals sind die nationalen und nationalistischen "Volksparteien", wie immer sie sich sonst mit schönen Adjektiven zu schmücken gewohnt sind. Dass sie seit dem Ende des Kalten Krieges ständig an Einfluss verlieren, weil man ja die Russen und Chinesen nicht mehr wegen ihrer kommunistischen Planwirtschaft, sondern allenfalls wegen ihres entfesselten Kapitalismus, ihrer mangelnden Menschen-, Bürger- und Arbeitsrechte, wegen ihrer niedrigen Löhne und Preise, natürlich auch wegen mangelhafter Umweltpolitik als Gefahr für "unsere Freiheit" anprangern kann, erzeugt Probleme, für die die klassischen Antikommunisten keine Antwort haben.

 

Jetzt hat es der kapitalistische Westen mit einem kapitalistischen Osten zu tun, jetzt muss die Kritik sich auf die in diesen Ländern noch fehlende Demokratie und Menschenrechtsverletzungen konzentrieren. Der dort zur Zeit herrschende, noch stark national orientierte "autoritäre Kapitalismus" hat - strukturbedingt, aber in Russland und China allein durch die Größe der Länder, ihres Reichtums an Rohstoffen und billigen Arbeitskräften - gegenüber den liberalen und sozialkapitalistischen Demokratien nicht zu unterschätzende Wettbewerbsvorteile. Diese können nur zum Teil durch außerdem schwer und viel zu zögerlich durchsetzbare neoliberale Deregulierungspolitik kompensiert werden. Das erklärt aber - neben anderen Faktoren - die starke Zunahme des systematischen Gesetzesbruchs der Konzerndiktatoren, wo immer sie in der Welt ihren Hauptsitz haben.

 

Was seit Jahren von Linken aller Schattierungen und kapitalkritischen Organisationen als Neoliberalismus angeprangert wird, ist vor allem die systematische, massiv vorangetriebene  Privatisierung öffentlichen Eigentums, öffentlicher Unternehmen und Dienstleistungen, Abbau von inverstionshemmenden Gesetzen und Sozialleistungen. Neoliberalismus, das ist in letzter Instanz die modernisierte imperialistische Antwort des alten freiheitlich-demokratischen Konzern-Kapitalismus des Westens auf den neuen östlichen, autoritären und ebenfalls imperialistischen Staatskapitalismus. Die Wettbewerbsvorteile des autoritären Kapitalismus können vom Westen nicht mehr so wirksam - und auch nicht ohne Selbstschädigung - wie im Kalten Krieg durch Embargos, Zollschranken oder überhöhte Anforderungen an Produktsicherheit unwirksam gemacht werden. Und da die Deregulierung auf Grenzen, zum Beispiel auf den Widerstand der Gewerkschaften stößt bzw. der Kapitalseite zu langsam vonstatten geht, explodieren die einzelnen Bereiche der Wirtschaftsverbrechen. Man könnte sie vor diesem Hintergrund zumindest teilweise als privat vorgezogene Deregulierung definieren.

 

Die Grenzen des Kampfs gegen Wirtschaftsverbrechen

Wahrscheinlich würden Wirtschaftverbrechen überhaupt nicht bekämpft, wenn sie sich nur gegen die Neukapitalisten der früheren Planwirtschaftsdiktaturen richteten, Aber sie schädigen auch westliche Kapitalisten, Großanleger und den seine Altersversorgung durch Kapitalanlagen sichernden Mittelstand. Dort ist nämlich inzwischen mehr zu holen als durch verschärfte Ausbeutung der Arbeitskräfte der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse, die es noch akzeptabel findet, auch von neoliberalen Sozialstaatsfeinden als "Sozialpartner" bezeichnet und respektiert zu werden. Dass das Klassenbewusstsein wieder erwachen könnte, ist erkennbar die größte Angst nicht nur der "Volksparteien", sondern auch der Herrschaften in den demokratiefreien Chefetagen der Konzerne. Noch ist diese Angst unbegründet, denn die marxistische Kritik der politischen Ökonomie hat noch keine Antwort auf die kriminelle Ökonomie, die sich jeglicher politischen Kontrolle durch Vertrags- und Strafrecht entzieht und durch die bestehenden Formen der Mitbestimmung nicht zu bekämpfen ist.

 

Daher ist die Debatte um ein neues Klassenbewusstsein innerhalb der Linken nicht auf der Höhe des Bewussseins der heutigen Kapitalstrategen. Sie betreiben Konzernpolitik als Globalpolitik, die unter den weltwirtschaftlich gegebenen Produktionsverhältnissen und noch immer im Namen nationalstaatlicher Souveränität betriebenen Selbstbehauptungspolitik wirkungslos bleibt und deshalb als Fassadendemokratie wahrgenommen und kritisiert wird. Produktionsverhältnisse sind zwar noch immer überwiegend nationale Rechtsverhältnisse, aber selbst dort, wo sie längst durch internationales Recht überwunden sind, sind sie doch kaum noch relevant. Denn der sich rapide entwickelnde Untergrundkapitalismus - also die Akteure der Wirtschaftsverbrechen, die die Gesamtheit der kriminellen Ökonomie ausmachen - kennen keine gesetzlichen Schranken. Weder nationale noch internationale. Die nationalen Gesetzesgrenzen, die früher der klassische Nationalstaat als ideeller Gesamtkapitalist dem Kapital zog (z.B. Antitrustgesetze, Steuergesetze, Sozial- und Arbeitsgesetze), lassen sich heute leicht durch Kapitalflucht meiden. Und von den Grenzen, die dem transnationalen Kapitalverkehr gezogen werden, lassen sich die Interessenvertreter und Strategen des global agierenden Finanzkapitals nicht im Geringsten beeindrucken. Seit dem Ende der "kommunistischen Gefahr" scheinen die Gründe endgültig dahingeschwunden zu sein, die bis zum Kollaps des Weltkommunismus Kapitaleigner und ihre politischen Repräsentanten veranlassen konnten, im Eigeninteresse und im Interesse der herrschenden Klassen, vor allem zur Gewinnung der notwendigen Legitimation der für sie einstehenden Staatsgewalt durch freie Wahlen wenigstens durch formale Einhaltung der sozial- und rechtsstaatlichen Regeln das "freiheitliche System" zu verteidigen.

 

Grenzen und neue Möglichkeiten der Aufklärung

Immer deutlicher zeigt sich: Weder die Wiederbelebung der bürgerlichen Aufklärung noch die Beschwörung der proletarischen, das heißt der marxistischen Aufklärung, durch wie viele Splittergruppen auch immer, können die beklagten und sowieso nur in den Grenzen der Kapitalinteressen bekämpften Fehlentwicklungen aufhalten und die absehbaren sozialen, humanitären und ökologischen Katastrophen verhindern. Denn diese beiden Aufklärungen, die bürgerliche und die marxistische, griffen immmer und greifen auch heute noch zu kurz, weil in ihren Weltbildern und Problemlösungsideen die Rolle der Wirtschaftsverbrechen nicht vorgesehen ist. Weder der soziale und ökologiekonforme Markt noch der sozialistische Plan können funktionieren, solange die Hauptgegner jeglicher Aufklärung, die Wirtschaftskriminellen, nahezu ungestört und meist auch ungestraft ihre permanente subversive Konterrevolution weltweit gegen jede Aufklärung betreiben können, die diese Autonomie der "Kapital-Verbrechen" nicht erkennt und bekämpft. Denn solange das so ist, ist der Wirtschaftskriminelle der wahre Souverän.

 

Wirtschaftskriminelle zerstören jede Form von Demokratie, die konkret vorhandene bürgerliche, wo sie besteht, ebenso wie alle Versuche, gegen deren ausbeuterischen Strukturen proletarische bzw. genossenschaftliche Demokratieformen zu entwickeln und zu etablieren. Sie müssen endlich einmal ausdrücklich zu Feinden dieser Demokratien erklärt werden. Dass es genügt, die Schwächen, die jedes Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit versprechende System nun einmal hat, auszunutzen, um zu Lasten von Gemeinschaften partikularistische und privatistische Vorteile zu ergaunern, ist hinreichend bekannt. Dazu bedarf es weit weniger großer Riskobereitschaft als für einen Banküberfall. Dass die kapitalistischen Demokratien besonders anfällig für Wirtschaftsverbrechen sind, scheint jedem einzuleuchten. Denn Freiheit zu missbrauchen, fällt nun einmal leichter als sie zu erkämpfen. Die inzwischen untergegangenen, sich als sozialistische Demokratien verstehenden Systeme, die in Wirklichkeit staatssozialistische Planungs-diktaturen waren, waren jedoch mindestens ebenso anfällig, wenn auch anders. Meine These ist, dass sie vor allem durch ihren Untergrundkapitalismus zerstört wurden.

 

Einen Demokratischen Sozialismus, der die Massen überzeugt, sie für Wirtschaftsdemokratie mobilisiert, hat es bisher als "System" noch nicht gegeben. Markt- und Planwirtschaftlern haben ihn bekämpft und allenfalls in Nischenformen (als Genossenschaften) mehr oder weniger geduldet. Das jugoslawische Modell, dass einst für eine von Arbeitern selbst verwaltete Wirtschaft den Weg ebnen wollte, hatte keine Chance. Als globales Gesellschaftsmodell konnte sich bisher nirgends ein Demokratischer Sozialismus durchsetzen. Von allen real existiereden Systemen ist er für das Kapital das gefährlichste, nicht zuletzt deshalb konnte es bisher erfolgreich verhindert werden.

 

Abzulenken von dieser Betrachtungsweise der Wirtschaftskriminalität ist daher das Gebot unserer Zeit. Ablenkung findet auch statt, wenn anstelle der aktiven Bestechung, die in der Regel von der Kapitalseite (den Konzernverantwortlichen) ausgeht, die Vorteilsnahme und Bestechlichkeit von Parteipolitikern, Abgeordneten, Regierungsmitgliedern, Beamten und anderen Amtsträgern so stark betont wird, dass der durchschnittliche Konsument solcher Informationen zu fragen vergisst, wer eigentlich diejenigen sind, die derart gemeingefährliche Anschläge auf demokratische Institutionen, Organisationen und sie repräsentierende Personen verüben. Dass einflussreiche Politiker an Unternehmer herantreten und sie mit dem Versprechen, ihnen öffentliche Aufträge zuzuschanzen, wenn sie ihnen oder ihren Parteien etwas von der Beute abgeben, ist wahr, aber doch eher selten. Es ist nämlich Vorschrift, öffentliche Aufträge auszuschreiben, um die sich Unternehmen bewerben müssen. Hier kommt es zweifellos immer wieder zu hochkriminellen Manipulationen, die aber im gegenseitigen Einvernehmen zwischen Auftraggeber und Bewerber stattfinden.

 

Es ist sicher nicht nötig zu beweisen, dass unter diesen hier nur angedeuteten Gegebenheiten meine Sicht auf dieses Problem von den die öffentlichen Diskussionen bestimmenden Meinungsmonopolisten, vor allem den extrem einseitig staatskritischen "Wirtschaftsliberalen" in Politik und Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft, überhaupt nicht oder nur mit großen Vorbehalten geteilt wird. Allerdings haben bisher auch Linke, ich meine nicht nur die, die in der Linkspartei organisiert sind, sondern auch Linke in anderen Parteien und in Gewerkschaften, darüber hinaus die wenigen noch in den Medien zu Wort kommenden unabhängigen Linksintellektuellen, nie ein besonderes Interesse gezeigt, sich "nachhaltig", was ja ihr Lieblingsbegriff ist, mit dem Thema Wirtschaftsverbrechen zu befassen. Es vedient heute schon Lob, wenn sie es sporadisch tun.

 

Ich bedauere das sehr, denn sie überlassen durch ihre Distanz und manchmal sogar offen demonstrierte Ignoranz dieses Thema der Rechten und sind insoweit mitverantwortlich, wenn diese ihre Chancen nutzen können. Denn sie missbrauchen das Thema, wenn sie es aufgreifen, meist erfolgreich dazu, die durch Wirtschaftsverbrechen verursachten sozialen Probleme und Konflikte zu ethnisieren. Ethnisierung sozialer Konflikte heißt im Klartext, dass statt fundierter Kritik an den Verbrechen des Kapitals (das heißt der Investoren, Manager und Aufsichtsräte) zu üben, es vorzuziehen, die sich anstauende Wut der Verlierer auf Juden und Fremde (Ausländer, Flüchtlinge, Vertriebene, aber auch Linke, die diesen beistehen) zu lenken, und auf das politische und kulturelle Establishment, dass diese "Volksschädlinge" nicht entschieden genug bekämpft.

 

Schlussbemerkung

Eine letzte Bemerkung. Ich weiß sehr wohl, dass das Internet das Medium der Eiligen ist. Aber es wird doch viel unnötige Zeit damit zugebracht, ja verschwendet, blindlings herumzuserven, sich von Events und erfundenen Horrorgeschichten, auch von Tratsch und Gerüchten in wohligen Schauern einnebeln zu lassen. Diese Zeit kann man auch nutzen, sich einmal etwas gründlicher mit diesem für jeden Einzelnen wichtigen und auch äußerst spannenden, nicht zuletzt allen, auch einem selbst nützlichen Thema "Wirtschafts-verbrechen" zu befassen. Wer es also geschafft hat, diesen Text bis hierher zu lesen, dem danke und gratuliere ich. Wer diese Anstrengung hinter sich gebracht hat, sollte sich nun (oder später) auch noch die Zeit nehmen und meine „Einführung“ in den Problemkomplex lesen.

 

Man findet diese Einführung unter dem Menü „Theorien“. Wer sie liest, wird feststellen, dass es der Mühe lohnt, sich tiefergehend und dauerhafter auf dieses komplexe Thema einzulassen. Sich mit Wirtschafts-verbrechen zu befassen, heißt, Vieles ganz anders zu sehen und auch besser zu verstehen, als es uns von Konzernchefs und ihren Sprachrohren, meist wirtschaftshörigen Beratern, Politikern und Publizisten, aber auch am Tropf der Konzerne hängenden Wissenschaftlern und Journalisten sowie professionellen Agenten der kapitalistischen Meinungs- und Kulturindustrie, immer und immer wieder erklärt wird. Wenn sich Aktivisten der verschiedenen Nichtregierungsorganisationen, alten und neuen sozialen Bewegungen auf diesen Versuch einer "Dritten Aufklärung" einlassen, wächst die Wahrscheinlichkeit, das sie ihren Zielen näher kommen, um ein Vielfaches. HS

 

Newsletter

9. Ein Milliarden-Betrug (13.08.2023)

Business Crime Control, 1991 in Hanau gegründet, erhielt 1993 anonym einen dicken Aktenordner zugeschickt, in dem alle wichtigen Beweise zusammengetragen waren, die den in Steinhagen ansässigen Sportbodenhersteller Friedel Balsam eines Milliardenbetrugs überführten. 

Der anonyme Absender hatte, wie er mir in einem späteren Telefongespräch mitteilte, mit einem gleichen Ordner die zuständige Staatsanwaltschaft Bielefeld informiert, die aber nicht reagierte. Ich empfahl dem Informanten, seine Anonymität aufzugeben und damit die Sache ins Rollen zu bringen.

 

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Meine Versuche, den SPIEGEL über diesen Milliardenbetrug zu mobilisieren, waren gescheitert. Aber nicht etwa, weil der SPIEGEL kein Interesse an dem Fall gehabt hätte. Die wenigen Redakteure, die sich mit dem Thema Wirtschaftsverbrechen überhaupt befassten, waren überlastet, mit anderen Fällen beschäftigt. 

 

Da die Bielefelder Staatsanwaltschaft gar nicht daran dachte, sich mit Balsam zu befassen, entschloss sich der damalige Wirtschaftskriminalist Karlheinz Wallmeier, Kriminalhauptkommissar in Bielefeld, am Staatsanwalt vorbei zu ermitteln. Die im Aktenordner erhobenen Vorwürfe bestätigten sich, so dass der Fall schließlich doch ins Rollen gebracht werden konnte. Es erwies sich, dass es sich im „Fall Friedel Balsam“ um eines der größten Wirtschaftsverbrechen in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Gründung handelte. 

 

Nun, rund zwanzig Jahre später, hat die bekannte Filmregisseurin Schillinger eine zweiteilige, insgesamt 90minütige Dokumentation für Arte und ARD gedreht, die vor einigen Tagen in Arte am Stück gezeigt wurde. Ein Wirtschaftskrimi, den nicht nur wirtschaftskritische Menschen gesehen haben sollten. Zwar hat für jemanden, der die gesamte Geschichte kennt, der Film einige Lücken und einige Längen, aber er enthält alle wesentlichen Elemente, die zum Verständnis auch der früheren und späteren Wirtschaftsverbrechen in Deutschland, Europa und der übrigen Welt hilfreich sind. 

 

Ich selbst, als Gründer und Ehrenvorsitzender von BCC, durfte bei diesem Film mitwirken, vor allem jedoch hat Kriminalhauptkommissar Wallmeier darin die verdiente Hauptrolle gespielt. Dass BCC ihm 1994 den mit 3000,- Euro verbundenen Preis für Zivililcourage verlieh, wurde zwar nicht erwähnt, aber durch eine kurze Einblendung der „Urkunde“ eindeutig dokumentiert. Ich selbst hatte die Möglichkeit, ein paar über den Fall hinausgehende Gedanken in den Film einzubringen, vor allem den, dass es sich bei diesem Verbrechen nicht um einen Einzelfall handelt, sondern um ein strukturelles regulierter Wirtschaftsysteme, was im Film durch den Hinweis auf den Fall Wirecard unterstrichen wurde.

 

Wer den Film nicht gesehen hat, sollte sich die Zeit nehmen, ihn aufmerksam anzusehen. Auch wenn darin nur indirekt angedeutet wird, dass es sich um ein gravierendes Demokratieproblem handelt, ist dies doch ein ganz wesentlicher Gedanke, der über diesen Einzelfall hinausweist, der Entwicklungen erklärt, wie wir sie am Beispiel Mussolini, Hitler, Pinochet, Berlusconi, Putin, Le Pen, Trump und vielen anderen „Größen“ unserer kapitalistischen Demokratien studieren können. Dass das, was 1933 geschah, sich nicht ähnlich wiederholen könnte, glaubt hoffentlich niemand mehr. Am wenigsten glauben das natürlich diejenigen, die mit dem Untergrundkapitalismus und seinen Repräsentanten offen sympathisieren und hinter die kapitalistische Demokratie zurück möchten, statt, was notwendig wäre, über sie hinauszuwachsen, also für eine wirksame Wirtschaftsdemokratie zu kämpfen. Hier zeigt sich die Schwäche der Linken. Sie schenkt diesem wichtigsten Ziel ihrer Politik kaum noch Beachtung und lässt sich durch die raffinierten Ablenkungsmanöver der Sozialstaats- und Sozialismusfeinde von Mitte bis Rechtsaußen aufs fremdenfeindliche und rassistische Glatteis führen. 

 

Siehe in der Mediathek von ARTE: Der Milliarden-Coup


8. Nachruf auf Prof. Dr. Erich Schöndorf (04.07.2023)

 

Von Hans See

 

Unser Freund und Mitstreiter in Sachen „Kampf den Wirtschaftsverbrechen“ ist von uns gegangen. Wie soll man diesem ungewöhnlichen Menschen, diesem großartigen Aufklärer in einem Nachruf gerecht werden? Ich versuche es, indem ich hier ein „Nachwort“ ins Netz stelle, das ich 1998 für Erich Schöndorfs Sachbuch „Von Menschen und Ratten – Über das Scheitern der Justiz im Holzschutzmittelskandal" unter der Überschrift: Was heißt hier Risikogesellschaft?, geschrieben habe. Die größte Ehre kann ihm erweisen, wer sich das Buch beschafft und es gründlich liest. Es enthält alles, was ein klassisches Aufklärungsbuch über das Thema Umweltverbrechen auch heute noch und für die nächsten Jahrzehnte enthalten muss. Es ist brennend aktuell, Mein Nachwort von damals zeigt hoffentlich, dass Erich Schöndorf ein wahrhafter Pionier im Kampf gegen die systematischen Zerstörer unserer Umwelt war und uns allen sehr Wichtiges mitzuteilen hat, allen, die sich heute in diesen Kampf begeben. Es geht um nichts Geringeres als um die Kontrolle über die enormen Risiken, die das menschliche Leben auf unserem Globus bedrohen. Es geht darum, die Risiken für die Gattung Mensch so weit zu minimieren, dass wir alle, Umweltzerstörer und andere, die das Zerstörungsgeschäft um ihrer Profite willen skrupellos fortsetzen, noch eine Chance haben, künftigen Generationen ein lebenswertes Leben zu ermöglichen. 

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Ich schrieb 1998 (die Rechtschreibung ist so belassen):

 

Wer von Juristen gefertigte Dokumente kennt, traut Vertretern dieser Berufsspezies nicht zu, spannend schreiben zu können. Doch Tatsache ist, daß viele große Schriftsteller - ich hebe aus gutem Grund nur Kafka und E.T.A. Hofmann hervor, obgleich auch Goethe in Frage käme - Juristen waren. Das vorliegende - spannende! - Buch ist jedoch kein Roman, keine Fiktion. Es handelt allerdings von kafkaesken, phantastisch anmutenden Realitäten, von der Wirklichkeit unserer „Risikogesellschaft". 

 

Der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck brachte diesen Begriff vor Jahren durch differenzierte Analysen unserer gegenwärtigen Lage in Umlauf. Inzwischen benutzen allerdings auch die das Schlagwort, die es als Risiko für den Standort Deutschland betrachten, wenn Bürgerinitiativen und Umweltpolitiker fordern, die Benzinpreise zu erhöhen, Grenzwerte von Umweltgiften zu senken, Nahrungsmittelkontrollen zu verschärfen, Atomkraftwerke abzuschalten und gentechnologische Experimente - insbesondere am Menschen - zu verbieten. 

 

Risikofaktoren für den Standort Deutschland sind aus Sicht der Kapitalanleger also nicht die Menschen, die durch ihre Profitsucht, ihren Wachstumswahn und ihre Machtbesessenheit Umwelt und Gesundheit von Pflanzen, Tieren und Menschen gefährden und zerstören. Es sind vielmehr die Einzelkämpfer und Organisationen, die angesichts dieser Gefährdungen, konkreter Leiden und Schäden von Millionen und - global gesehen - Milliarden von Menschen höchste Anforderungen an Verbraucher-, Gesundheits-, Tier- und Naturschutz stellen und dafür durchaus bereit sind, niedrigere Renditen für Geldanleger und Nachteile für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in Kauf zu nehmen. 

 

Der Begriff Risikogesellschaft ist also geeignet, auf alles und jedes angewandt zu werden. Er kann von jedem Versicherungsvertreter benutzt werden, dessen Job es ist, überschaubare und kalkulierbare Lebensrisiken zu Geld zu machen. Doch Beck meinte gerade nicht die Risiken, gegen die wir uns versichern können, obgleich  wir ihnen täglich ausgesetzt, ja ausgeliefert sind. Er meinte die meist ganz legale Naturzerstörung, "die Skelettierung der Wälder, schaumgekrönte Binnengewässer und Meere, öl verschmierte Tierkadaver, Smog, Schadstofferosionen an Gebäuden, an Kunstdenkmälern, die Kette der Gift-Unfälle, Gift-Skandale, Gift-Katastrophen und die Medienberichterstattung darüber." Sarkastisch stellte er in seinem 1986 erschienenen Buch .Risikogesellschaft" fest: "Die Schad- und Giftstoff-Bilanzen in Nahrungsmitteln und alltäglichen Gebrauchsgegenständen werden immer länger. Die Dämme der 'Grenzwerte' scheinen mehr den Anforderungen an Schweizer Käse (Je mehr Loch desto besser) als dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung zu genügen." 

 

Becks Analyse müßte ausreichen, veröffentlichte Meinung, Parteiprogramme, Gesetzgebung, Wirtschaftspraxis, Wissenschaft und die Justiz grundlegend zu reformieren, ja zu revolutionieren. Da aber, gemessen an dem, was national und international notwendig wäre, nahezu nichts geschieht, kommentierte der junge Schweizer Lyriker und Schriftsteller Peter Fahr (BCC-Mitglied) in seinem Buch "Ego und Gomorrha": "Wenn Sozialkritiker neuerdings von Risiko- und Katastrophengesellschaft sprechen, meinen sie im Grunde ein System von Halsabschneidern, die weder vor Machtmißbrauch noch vor kriminellen Handlungen zurückschrecken, wenn es darum geht, eigene Scheinbedürfnisse zu befriedigen; ein System von Weltbürgern, die mit gefährlicheren materiellen Stoffen und geistigen Kräften spielen, ohne die Folgen ihres Spiels abzusehen; ein Weltsystem, das die vier Elemente verdirbt und die Energie- und Rohstoffvorräte des Planeten plündert bis zur bitteren Neige. Sie meinen eine Gesellschaft, die sich selbst umbringt, eine Suizidgesellschaft." 

 

Ich finde dies sehr treffend. Denn tatsächlich vermeidet Ulrich Beck wie ein auf nichtstaatliche Forschungsgelder angewiesener Wissenschaftler die Auseinandersetzung mit den "Halsabschneidern." Folglich bleibt in seinem so wichtigen und vieldiskutierten Werk ein zentrales Problem nahezu vollkommen unbeachtet: die Wirtschaftskriminalität, der ganz konkrete, alltägliche Mißbrauch wirtschaftlicher Macht, die wirtschaftskriminellen Handlungen, einschließlich der Umweltkriminalität als eines der größten Segmente der Wirtschaftskriminalität. Beck konzentriert sich - was völlig legitim, aber eben nicht genug ist – auf die legalisierte Naturzerstörung, legalisierte Menschengefährdung. Ein wichtiges Problem, ganz zweifellos, aber es scheint lösbar. Zumindest in Demokratien bestimmen die Bürger über die Zusammensetzung der Gesetzgebungsorgane, demokratische Gesellschaften können die Legalisierer unverantwortlicher Risiken abwählen. Tun sie es nicht, fällt die Verantwortung bei vordergründiger Betrachtung auf die Wähler zurück. In Deutschland hat der sogenannte Souverän - das Volk - kurz vor Redaktionsschluß dieses Buches einen Regierungswechsel herbeigeführt. Während den einen die Vereinbarungen der rot-grünen Koalition zu weit gehen und sie große Gefahren für den Wirtschaftsstandort Deutschland sehen, greifen sie in den Augen der anderen zu kurz. Daß es in der Tat extrem schwierig ist, einen ganz anderen Polit-Kurs zu steuern, zeigt, worunter unsere Demokratie leidet: unter dem strukturellen Widerspruch, daß es in ihrem noch immer national begrenzten politischen Herrschaftsbereich international operierende Wirtschaftsunternehmen gibt, die getrost als demokratiefreie Inseln betrachten werden können. Der international bekannte US-Amerikaner Noam Chomsky nennt sie daher Tyranneien. Tatsächlich erscheint es immer schwerer zu werden, sie auf die geltenden demokratischen Gesetze zu verpflichten, wenn diese nicht ausdrücklich den an oberster Stelle der Unternehmenspolitik stehenden Profitinteressen dienen. 

 

Sobald ein verantwortungsbewußter Gesetzgeber den Versuch unternimmt, in das angeblich den Konsumentenwünschen verpflichtete Umweltvernichtungsprogramm regulierend einzugreifen, wird dies von fundamentalistischen Marktideologen als Eingriff in die unternehmerische Betätigungsfreiheit interpretiert. Die Abwehrschlachten des Kapitals werden begleitet von einem massiven legalen, aber auch illegalen - das heißt geheimen und mit dem Schmiermittel Geld wirksam erhöhten - Lobbyismus, durch Korruption, Politikerkauf, Erpressung. Mit kapitalgestützten Angstkampagnen, die vor allem vor Wahlen auf die Gefahren einer ökologisch orientierten Gesetzgebung für Arbeitsplätze und internationale Wettbewerbsfähigkeit hinweisen, wird die systematische Umweltzerstörung legalisiert, werden schärfere Kontrollen wirtschaftlichen Machtmißbrauchs erfolgreich abgewehrt. Und falls dies wegen öffentlichen Drucks nicht ganz gelingt, werden die Gesetze durchlöchert und ihre wirksame Umsetzung verhindert. In vielen Chefetagen wird es - einmal abgesehen von Tarifverträgen, Geschäftsabmachungen, Wettbewerbsregeln - nicht einmal mehr für nötig erachtet, die geltenden Strafnormen zu beachten. Warum auch? Die Wahrscheinlichkeit, unentdeckt zu bleiben, ist groß, und noch größer ist die Chance, im Falle der Entdeckung weitgehend unbeschadet und billig davonzukommen. Warum Gesetze respektieren, wenn sie nicht einmal vom Gesetzgeber ernst genommen werden? 

 

In seinem zweitem Buch zu diesem Thema ("Gegengifte - Die organisierte Unverantwortlichkeit", 1988) schreibt Ulrich Beck über die kriminelle Seite unserer Wirtschaft, die ansonsten auf Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit und Modernität so viel Wert legt: "Nicht nur die Seehunde in Nord- und Ostsee sterben einen qualvollen Tod. Selbst bei den Pinguinen .am Südpol ist die Chemie, zu der die zivilisatorische Welt im Innersten geworden ist, inzwischen reichlich angekommen. Doch die Justiz, eingemauert in das Selbstverständnis einer anderen Epoche, kann wie zu Dorfrichter Adams Zeiten erst dann eingreifen, wenn im chemischen Universum das traditionelle Relikt eines 'Einzeltäters' dingfest gemacht wurde."

 

Mit solch „organisierter Unverantwortlichkeit“, wie Beck es formuliert, setzen sich unsere Sozialwissenschaftler nicht ernsthaft auseinander. Selbst in den Büchern des sonst so klugen Ulrich Beck ist die oben zitierte Bewertung die einzige Passage, in der er sich mit dieser Problematik auseinandersetzt. Ganz anders verhält sich da der Jurist Erich Schöndorf, der gründlich, herausfordernd und wohltuend unjuristisch - also allgemeinverständlich - dieses vielen allzu heiße Eisen anpackt. Es ist ein großes Verdienst, klarzumachen, daß es sich beim Holzschutzmittel-Skandal um ein viele Menschen gesundheitlich und materiell schwer schädigendes Wirtschaftsverbrechen handelte. 

 

Man muß Schöndorf für seine Aufarbeitung des Falles besonders dankbar sein, weil dieser - juristisch abgeschlossen - sich hervorragend eignet, die verwickelten Zusammenhänge sowie Macht- und 

Interessenstrukturen zu erörtern. Der Kampf der Interessengemeinschaft der Holzschutzmittel-Geschädigten (IHG) wäre zum Beispiel völlig aussichtslos gewesen, wenn nicht ein kämpferischer Staatsanwalt wie Erich Schöndorf, ein ebenso couragierter Wissenschaftler wie Prof. Dr. Otmar Wassermann, Leiter der toxikologischen Abteilung der Universität Kiel, aber auch namhafte Journalisten wie Herbert Stelz vom Hessischen Rundfunk, die Bedeutung dieses Falles begriffen, ihn aufgegriffen und sich für die Rechte der Opfer wirtschaftskrimineller Praktiken engagiert hätten. Und zwar trotz der Gefahr der Diskriminierung und Isolation. Das führte dazu, daß sogar Richter des Frankfurter Landgerichts es damals als erwiesen ansahen, dass die Angeklagten nach Gesetzeslage Straftäter sind. So weit wagten sich die Richter des Bundesgerichtshofes leider nicht. 

 

Die Organisation „Business Crime Control e.V.“ (BCC) verlieh der IHG für ihren aufklärerischen Kampf um die Rechte der Opfer des Skandals 1995 ihren Preis für Zivilcourage. Ich schrieb damals an deren Vorstand, daß die von der IHG geführten Prozesse „trotz des Urteils des BGH doch auch Erfolge mit sich gebracht" haben. „So haben die Chemiekonzerne unter dem Eindruck dieser Prozesse inzwischen neue - und wie es heißt - ungefährlichere Holzschutzmittel auf den Markt gebracht. Das öffentliche Bewußtsein für die Gefährlichkeit von Marktprodukten, für unsere Wohnumwelt und damit auch Menschenvergiftung ist in hohem Maße sensibilisiert worden. Und vielen Menschen wurde vorbildhaft gezeigt, daß man sich wehren kann und muß, weil anders der Übermacht der Wirtschaft nicht zu begegnen ist. Durch Ihren Kampf mußten Staatsanwälte, Richter, Wissenschaftler und Politiker Position beziehen. So hat sich gezeigt, daß es auch unter diesen Einzelpersönlichkeiten gibt, die sich der Probleme und der Verantwortung unserer heutigen 'Risikogesellschaft' schon bewußt sind. Ausdrücklich sollen sie durch die Preisverleihung an die IHG mit geehrt werden.“ Mit zu den Geehrten gehörte auch der Autor dieses Buches, Erich Schöndorf. Die IHG und ihre Mitstreiter errangen unglaubliche Siege, aber am Ende folgten auch schlimme Niederlagen. Daß Erich Schöndorf nicht bereit ist, die Aktendeckel zu schließen und den juristisch abgeschlossenen Fall noch einmal auf andere Weise aufrollt, beweist, daß es richtig war, ihn seinerzeit mit zu ehren. 

 

Ich benutze noch einmal eine Figur Kafkas, den Landvermesser K. Im Roman „Das Schloß“ muß er, wie die anderen Protagonisten auch, sein Leben unter dem Einfluß unzugänglicher Gesetze verbringen, findet aber keinen Einlaß in die Trutzburg, in der diese beschlossen und ausgelegt werden. Schöndorf schafft es mit dem vorliegenden Buch, den Leserinnen und Lesern Einblick in die Abläufe innerhalb dieser ganz real existierenden Trutzburg zu vermitteln und sie zu erklären. Dadurch nimmt unsere Risikogesellschaft erkennbar Gestalt an, zeigt nicht nur ihr hauptsächlich von der Chemieindustrie schön geschminktes Gesicht, sondern auch ihren von skrupellosen Geschäftemachern und „Halsabschneidern“ verdorbenen Charakter, ihre fein ausgetüftelten, kaum greifbaren Macht- und Herrschaftsverhältnisse, ihre letztlich gewalttätigen Strukturen, deren Funktionen und fatale Folgen. 

 

Der engagierte Staatsanwalt Schöndorf macht den Holzschutzmittel-Skandal zum herausragenden Studienobjekt für alle nur denkbaren aktuellen und künftigen Fälle, in denen - mit Ulrich Becks Worten - " mit Gesetzen überfütterte, offiziell gegenläufig programmierte Justiz mit ihren hochgestochenen bürokratischen Rechtsansprüchen nahezu perfekt Alltäterherrschaft in Freispruch verwandelt.“ Wie ein solcher "Freispruch" aussieht läßt sich auch an dem im August 1998 in Frankfurt am Main geplatzten Giftmüllschieberprozeß studieren, bei dem es um Zehntausende Tonnen gepanschten Altöls ging. Die illegale Entsorgung und Korruption (es flossen rund 630.000 Mark Bestechungsgelder) rechtfertigte es nach Ansicht der Richter nicht, die Angeklagten in Untersuchungshaft zu halten. Nach Auffassung der Frankfurter Staatsanwaltschaft, die den Gerichtsentscheid anfechten will, sind laut Spiegel (Nr. 33/98) die Richter „in die Erhebung der Sachbeweise aus unerfindlichen Gründen bisher ernsthaft nicht eingetreten“ und daher befangen. Wie übrigens auch der Gutachter, der den Angeklagten die ordnungsgemäße Entsorgung der toxischen Coctails bescheinigte. 

 

Der von der Justiz, den öffentlichen und privaten Meinungsproduzenten als erledigt behandelte Holzschutzmittel-Skandal kann - wie uns dieses Buch (Von Menschen und Ratten) frei von Pathos nahebringt - als ein Verbrechen unvorstellbaren Ausmaßes mit Langzeitfolgen für Generationen betrachtet werden; vielleicht als eine besondere Art von Giftgasanschlag auf Millionen von Menschen und deren Nachkommen. Wer wie Schöndorf einen solchen Fall von moderner Brunnenvergiftung, der friedliche Bürgerinnen und Bürger, die sich ein Heim schaffen wollten, ihrer Gesundheit beraubt, gründlich und aus den verschiedensten Perspektiven und Problemebenen beschreibt und analysiert, hat höchste Aufmerksamkeit verdient. Aber die großen Verlage tun sich schwer, ein so brisantes Buch auf den Markt zu bringen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch das Engagement des in Umweltfragen erfahrenen Verlages „Die Werkstatt“ hervorheben. Solange sich Politiker weigern, den Begriff der inneren Sicherheit auch mit wirtschaftskrirninellen Bereicherungspraktiken in Verbindung zu bringen und hier die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, sind derlei publizistische Aktivitäten nicht hoch genug einzuschätzen. 

 

Ich versuche seit vielen Jahren vergeblich, vor allem Wissenschaftler, Politiker und seriöse Journalisten dazu zu bewegen, sich der Problematik anzunehmen. Insbesondere bemühe ich mich, den Begriff der Wissenschaftskriminalität gesellschaftsfähig zu machen. Die öffentliche Anerkennung dessen verhängnisvoller Rolle könnte den Zwang verstärken, den wegen ihrer Hochspezialisierung zu Aufklärungsmonopolisten aufgestiegenen Forscher und Gutachter endlich die Offenlegung ihrer Abhängigkeiten abzuverlangen. Die Gesellschaft muß wissen, wer wissenschaftliche Arbeit zu welchen Zwecken und mit welchen Zielen finanziert, welche Abhängigkeiten zwischen Wirtschaft und Wissenschaft existieren und wie sie sich auf die Durchsetzung von Interessen bis hinein in die vermeintlich so unabhängige Justiz auswirken. 

 

Es ist ein nur schwer zu erklärendes Phänomen, daß sich angesichts der Fülle wirtschaftskrimineller Praktiken ein Klima der allgemeinen Oberflächlichkeit und Lethargie ausbreiten konnte. Dabei beweist dieses Buch von Schöndorf eindrucksvoll, daß keineswegs jegliche Umweltzerstörung auf das Konto der Gesamtheit der Suizidgesellschaft gebucht werden kann. Vielmehr müssen bestimmte Umweltverbrechen eindeutig jenen zur Last gelegt werden, die ihre unternehmerische Entscheidungsfreiheit - auf der sie gegenüber sozialstaatlicher Demokratie, Arbeitnehmern, Gewerkschaften und nichtstaatlichen Organisationen mit aller Härte bestehen - auf kriminelle, zumindest aber in hohem Grade verantwortungslose Art mißbrauchen. 

 

Bezieht man in den Klimabegriff auch Mikroklimata in dem Sinne ein, daß die Luft in unseren Wohn- und Schulräumen sowie öffentlichen Gebäuden davon mit erfaßt wird, so gewinnt das Wort Klimakatastrophe eine noch brisantere Bedeutung. Noch einmal unser Schweizer BCC-Mitglied und Autor Peter Fahr, der treffsicher formulierte: „Das Klima der allgemeinen Oberflächlichkeit und Lethargie ist die eigentliche Klima-Katastrophe dieser Zeit." Das Buch von Erich Schöndorf ist ein Schritt, dieser Geisteshaltung ein Ende zu bereiten. 


7. Herzliche Glückwünsche! Dem gottgläubigen Kommunisten Jean Ziegler zum 89. Geburtstag. (19.04.2023)

Er erblickte am 19. April 1934 in Thun, einer Kleinstadt der deutschen Schweiz, das Licht der Welt. Der Junge wurde in eine etablierte, angesehene Familie hineingeboren und fand somit alle Voraussetzungen vor, die man in der Schweiz braucht, ein gutbürgerlicher Kantonist mit jener „eingemitteten Moral“ zu werden, die vielen Schweizern eigen ist. Längere Zeit sah es so aus, als ob sich auch bei Hans Ziegler der selektierende Sozialdeterminismus durchsetzen würde, den das typische Leben in kapitalistischen Klassengesellschaften Kindern bereithält. Die einen sind und bleiben frei von Eigentum, müssen sich „verdingen“, die anderen genießen Eigentumsfreiheit, sind also nur verantwortlich dafür, ob sie diese Freiheit sinnvoll benutzen. Was sinnvoll ist, bestimmen sie.

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Zu gut für eine bürgerliche Karriere

 

Ziegler trat zunächst in die Fußstapfen seines Vaters, der Gerichtspräsident war, und studierte, gleich in mehreren Staaten, auch in den USA, Rechtswissenschaften. Schon während seines Studiums wurde deutlich, dass er – obgleich noch mit einem Fuß im bürgerlichen, d.h. antisozialistischen, Lager – auf diesem Entwicklungspfad nicht glücklich werden würde. Er war ein allzu kluger, eigenwilliger und kritischer Kopf, als dass er es übers Herz gebracht hätte, für eine bürgerliche Karriere, als Anwalt bürgerlicher Interessen, sein Leben zu verschwenden. Es ist hier nicht der Ort, dieses Leben zu erzählen. Man findet im Internet so viele Interviews und Berichte, dass man nicht einmal die bisher einzige Biografie gelesen haben muss, die existiert. Der Wirtschaftsjournalist Jürg Wegelin hat sie unter dem Titel „Das Leben eines Rebellen“(bei Nagel & Kimche im Hanser Verlag München, 2011) veröffentlicht. Aus ihr ist genug über Ziegler und sein Wirken zu erfahren.

 

Wer dennoch Bedarf nach tieferen Einblicken in dieses Leben hat, dem seien Zieglers sehr persönlich gehaltenen Bücher „Die Lebenden und der Tod“ sowie „Ändere die Welt – Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“, empfohlen. An dieser Stelle halte ich es für ausreichend, an die große Bedeutung Jean Zieglers für meine eigene politische und wissenschaftliche Arbeit und Entwicklung zu erinnern. Vor allem an seinen starken Einfluss auf mein Interesse an Themen und Problemen der Wirtschaftskriminalität. Es wurde aus den gemeinsamen Interessen eine Freundschaft, für die ich ihm sehr dankbar bin. In den frühen 1960er Jahren, als ich mich – noch Student und Doktorand bei Wolfgang Abendroth – erstmals unter demokratietheoretischen Vorzeichen mit der Macht der Konzerne befasste und in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ (Nr. 5/1969) einen Aufsatz über die „Mitbestimmung als Weg zur Selbstbestimmung“ veröffentlichte, stand mein Denken noch ganz im Zeichen der damals vom Ost-West-Antagonismus beeinflussten marxistischen Kapitalismuskritik. Von Jean Zieglers generativer Soziologie hatte ich noch nichts gehört und nichts gelesen.

 

In meinem zweiten Aufsatz für die „Blätter“ (Nr.7/1983), unter der ebenfalls demokratietheoretisch gemeinten Überschrift „Die gekaufte Demokratie“, beschäftigte ich mich intensiv mit dem sog. Flick-Parteienspendenskandal. Aber obwohl ich das 1976 erschienene Buch von Jean Ziegler, „Eine Schweiz – über jeden Verdacht erhaben“, kannte, es meine ganze Aufmerksamkeit auf die wirtschaftskriminelle Dimension der Ökonomie gelenkt und mich dahingehend beeinflusst hatte, meine Kapitalismuskritik auf den Bereich illegaler Parteienfinanzierung auszudehnen, hatte ich noch Hemmungen, mich auf ihn zu berufen. Denn Ziegler galt in Kreisen westdeutscher Marxisten als Antikommunist. Obgleich ich (wie Ziegler) damals als marxistischer Sozialdemokrat aktiv war – lehnte ich den im Kalten Krieg zur Religion der christlichen Kapitalistenknechte verkommenen Antikommunismus ab. Kritik am Kommunismus, am sowjetischen wie am maoistischen, war für mich selbstverständlich notwendig, wenn sie nicht dogmatisch antikommunistisch war! Nicht zuletzt, weil neben der bürgerlichen Rechten auch die dogmatischen Kommunisten linke Sozialdemokraten, demokratische Sozialisten, als „Revipack“, als Revisionisten, bekämpften.

 

Die Auflösung der bipolaren Weltordnung

 

Dass der linke Flügel der SPD damals von CDU/CSU und Teilen der FDP, aber auch dem rechten Flügel der SPD selbst, als Wegbereiter des Stalinismus verteufelt wurde, war für mich Grund genug, mit Thomas Mann den Antikommunismus als „Grundtorheit des 20. Jahrhunderts“ zu bekämpfen, wo immer er sein Unwesen trieb. Aber was sollte man machen, wenn Kommunisten demokratische Sozialisten bekämpften, als hätten sie nicht längst den verhängnisvollen Vorwurf wieder verworfen, Sozialdemokraten seien Sozialfaschisten? Erst mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, also ab 1990, mit der Selbstauflösung vieler Kommunistischer Parteien Europas, löste sich auch dieser beschämende Widerspruch zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten allmählich auf. Jetzt schien es mir höchste Zeit, dem Kollegen Jean Ziegler einen persönlichen Besuch abzustatten. Er empfing mich in seinem Büro in der Universität Genf freundlich und gesprächsbereit, obgleich er damals schon von Sorgen geplagt wurde, von denen ich erst erfuhr, als ich wieder zuhause war. Er sah nämlich einer ganzen Reihe von Prozessen entgegen, die die von ihm in seinem Buch „Die Schweiz wäscht weißer – Die Finanzdrehscheibe des internationalen Verbrechens“ als „Halunken“ und „Geyer“ angeprangerten Geschäftsleute wegen Ruf- und Geschäftsschädigung gegen ihn angestrengt hatten und die er allesamt verlor. Wenige Jahre später erwiesen sich die Vorwürfe Zieglers als berechtigt. Die ihn verklagt hatten, wurden nämlich selbst verklagt und verurteilt.

 

Wir tauschten damals Informationen aus und kamen überein, in Kontakt zu bleiben und unsere Aktionen gegenseitig zu unterstützen. Ich versuchte nach diesem Treffen, als ich von den Prozessen erfuhr, eine Solidaritätskampagne zu organisieren, Geld zu sammeln, um ihm auch materiell beizustehen, aber er wollte das nicht. Als ich ihn später in Bern im Parlamentsgebäude wieder traf, er nahm gerade an einer Ausschusssitzung teil, die er für unsere Gespräch verließ, hatte ich schon zusammen mit Freunden die gegen Wirtschaftsverbrechen gerichtete Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control gegründet. Dieses zweite Treffen mit Ziegler ergab sich also eher zufällig, weil ich von dem in Bern lebenden Schriftsteller, Poeten und Essayisten Peter Fahr zu einem Vortrag über Wirtschaftsverbrechen eingeladen worden war. Fahr hatte ich unabhängig von Jean Ziegler kennengelernt, dann aber erfahren, dass Ziegler mit dem französischen Gründer der internationalen Hilfsorganisation Emmaus, Abbé Pierre, befreundet war, und sich aktiv beteiligte, als Peter Fahrs Eltern, vor allem sein Vater, in der Schweiz Emmaus-Filialen gründeten.

 

Ich erfuhr bei diesem zweiten Treffen von Ziegler, dass er zu jener Zeit stark an den Entwicklungen der Staaten des zusammengebrochenen Ostblocks interessiert war, vor allem am „Organisierten Verbrechen“ (OK), das schon vor, aber besonders während der Abwicklung der Planwirtschaften Ausmaße angenommen hatte, die in bürgerlichen Kreisen der westlichen Welt die erhofften und durch gigantische Kapitalströme geförderte Wirtschaftstransformation hin zu sozial abgefederten kapitalistischen Demokratien die schlimmsten Befürchtungen aufkommen ließen. Nicht nur für die postkommunistischen Staaten, auch für das Schweizer Bankensystem. Daher hatte Ziegler damals nur ein begrenztes Interesse am Thema „Wirtschaftskriminalität“ in kapitalistischen Demokratien. Als 1998 sein Buch „Die Barbaren kommen – Kapitalismus und Organisiertes Verbrechen“ (bei Bertelsmann) erschien, das er zusammen mit Uwe Mühlhoff und weiteren Mitarbeitern verfasste, konnte man dort (S.54-56) auch meine These nachlesen, zu der ich noch heute stehe, dass eine klare Abgrenzung zwischen Wirtschaftskriminalität und OK eigentlich gar nicht möglich sei, und wenn, dann nur, wenn man bei ersterer Gewinne aus kriminellen Geschäften als Nebeneinnahme bzw. Extraprofite begreife, sie aber bei OK als Hauptprofitquelle erkenne.

 

Ziegler erkannte klar, dass sich bei dieser Betrachtung eine brisante politische Frage aufdrängte, nämlich die, ab welchem Prozentsatz illegaler Gewinne die Kriminalität der legal wirtschaftenden Unternehmen in Organisierte Kriminalität umschlägt. Mit diesem Problem befasste er sich aber nicht, sondern „ausschließlich mit dem grenzüberschreitenden, organisierten Verbrechen“. Er betonte jedoch: „Ich halte die Wirtschaftskriminalität keinesfalls für ein unbedeutendes Phänomen. Sie richtet schreckliche Verwüstungen in den Volkswirtschaften Westeuropas an und schädigt jeden einzelnen von uns beträchtlich. Die Wirtschaftskriminalität, deren Auswirkungen noch immer von vielen verkannt werden und die leider noch zu wenig erforscht worden ist, bereitet zudem den Boden für eine weitere Schwächung unseres sozialen Immunsystems und damit für die organisierte Kriminalität. Schließlich sind die Übergänge zwischen beiden Kriminalitätsformen, da auch die organisierte Kriminalität auf die Unterwanderung der legalen Wirtschaft gerichtet ist, fließend. Nicht auszudenken sind schließlich die Folgen, wenn sich diese Formen der Kriminalität dauerhaft verbinden sollten.“

 

Die Globalisierunng der kapitalistischen Demokratie

 

Wer Zieglers später erschienene Bücher, „Wir lassen sie verhungern“, „Der Hass auf den Westen“, „Die Schande Europas“, um nur drei von vielen zu nennen, liest, die sich vor allem mit dem Hunger im globalen Süden, in Südamerika, Afrika und Südostasien, aber auch den Ursachen und fatalen Folgen befassen, nicht zuletzt der durch Not, Elend und Umweltzerstörung erzwungenen Massenmigration, wird erkennen, dass die Verbindungen beider Formen von krimineller Ökonomie längst zu einem globalen Untergrundkapitalismus, einem System, weiterentwickelt wurden, das besser zu funktionieren scheint als der regulierte Kapitalismus der liberalen und sozialen Demokratien. Was Ziegler 1998 noch als „nicht auszudenken“ bezeichnete, ist nun, ein Vierteljahrhundert später, auch von vielen kapitalabhängigen Kriminologen erkannte, wenn auch nicht explizit anerkannte, Realität.

Vor allem jene Länder des globalen Südens bekommen die Folgen dieses in den demokratischen Standortstaaten legitimierten räuberischen Kapitalismus zu spüren, weil sie nicht in der Lage sind, sich gegen die gewaltige, notfalls gewaltätige, finanzielle Übermacht, den Finanzlawinen der Investoren kapitalistischer Demokratien, vor allem der USA und der von dieser noch abhängigen Europäischen Union, zu schützen. Denn der freiheitlich-demokratische "Westen" schafft mit allen nur denkbaren polizeilichen, militärischen, geheimdienstlichen, medialen, kulturellen und staatsoffiziellen Mitteln der „Entwicklungshilfe“ die Rahmenbedingungen, die die gigantischen Kapitalgesellschaften, global operierenden Finanzhaie, Oligarchen und Industriekonzerne bei ihren Aufkäufen von Land, Leuten und Industrien schützen und unterstützen. Diesem systemisch überlegenen Druck konnten bisher nur die Russische Föderation und das (noch!) von Kommunisten beherrschte, aber längst kapitalistische und imperialistische China widerstehen.

 

Mit dem Ende der kommunistischen Entwicklungsdiktaturen in den Otblockstaaten entstanden daher kapitalistische Demokratien und Diktaturen. Das Ende der kommunistischen Herrschaft und deren Ablösung durch eine kapitalistische Diktatur steht nach meiner Prognose in China noch bevor. Doch schon jetzt prallen – wie der gegenwärtige russische Krieg gegen die Ukraine beweist und die Taiwanfrage erahnen lässt – die Interessen der großen kapitalistischen Demokratien und die ihrer kleineren Bündnispartner mit aller Wucht auf die postkommunistisch-kapitalistischen Diktaturen. In der Ukraine finden mörderische Materialschlachten statt, unter denen nicht nur Menschen und Kulturgüter, sondern ganze Landschaften und Sozialsysteme vernichtet und die Kämpfe um Erreichung der Klimaziele ad absurdum geführt werden.

 

Daher können alle noch so ernsthaften Bemühungen um den Erhalt des Friedens und der Rettung der Gattung Mensch vor einer globalen Klimakatastrophe als sinnlos betrachtet werden, wenn es den demokratischen Kräften nicht sehr schnell und breitenwirksam gelingt, kriminalpräventive Kontrollsysteme zu etablieren, die Konzernherrn und Konzernherrinnen, Investoren und Kapitalstrategen in Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Kulturunternehmen zwingt, sich den notwendigen Gesetzen und der konsequenten Rechtsprechung zu beugen, ihnen nicht länger auszuweichen, oder, was in solchen Fällen auch befürchtet werden muss, rechtsextreme gesellschaftliche Kräfte an die politischen Schalthebel zu bringen, die dann die richtige, das heißt rechte, „Ordnung“ durch Zerschlagung der demokratischen Sozialstaaten wieder herstellen.

 

Man braucht gar nicht mehr an die älteren Beispiele, an Napoleon den Dritten, an Mussolini, an Hitler, Franco und Salazar zu erinnern, es genügt, dass es schon wieder Berlusconis, eine BCCI, eine Bank of Credit and Commerce International, Bophal, den Holzschutzmittelskandal, Dieselgate, Fukushima und Contergan, Glyphosal und eine steil ansteigende Erderwärmung, Cum-Ex, Wirecard, Erdogan und Donald Trump gibt. Erinnert sei auch an die jüngste Schweizer Bankenkrise, die dazu führte, dass eine der größten Skandalbanken der Welt, die Crdit Suisse, von einer noch größeren, der UBS, für lumpige drei Milliarden geschluckt wurde. Wohin das führen wird? Das sind hier nur einige Wegmarken, die uns daran erinnern, wovor uns der welterfahrene alte Mann, Jean Ziegler, seit Jahrzehnten warnt. Ja, er ist inzwischen ein alter weiser Mann, der aber im Kopf so jung geblieben ist, wie die neuerdings wieder einmal weltweit erwachende Jugend, die er mit großer Zuversicht beobachtet und die ihm Hoffnung gibt.

 

Auch das private ist nicht frei von Politik

 

Zieglers reale Lebensgeschichte ist spannender als jeder Abenteuer- und Kriminalroman, lehrreicher noch als die kritischsten der Modephilosophien unserer als zu Unrecht als Lifestile-Linke belächelten Intellektuellen. Diese Geschichte kann hier nicht erzählt werden. Wer Ziegler näher kennenlernen will, sollte einfach seine Bücher lesen. Auch die Biografie, die der Wirtschaftsjournalist Jürg Wegelin 2011 im Carl Hanser Verlag München veröffentlichte, ist, wenngleich sie Ziegler in manchen Teilen nicht gefällt, auch nicht gerecht wird, durchaus lesenswert. Sie ist kritisch, aber an Zieglers Selbstkritik reicht sie nicht heran. Für ihn ist – ungewollt – auch das Privatleben nicht unpolitisch. Mindestens ebenso spannend und lehrreich wie die Biografie ist das 2019 erschienene Jubiläumsbuch aus der edition 8 (Zürich), das unter den Titel "Jean Ziegler - citoyen et rebell. Der lange Weg von Thun nach Genéve pour un monde plus juste“. In dieser Hommage haben 28 namhafte Autoren verschiedener Nationen die vielen Seiten diesen Mister Universums, des UNO-Sonderberichterstatters und radikalen Menschenrechtlers, beleuchtet, die man in einer Biografie, die noch geschrieben werden muss,  undbedingt berücksichtigen sollte.

 

Aus Rücksicht auf die Länge dieser Gratulation kann hier das wichtigste dieses an Ereignissen und Erfahrungen, an geistigen Leistungen und bedeutenden Begegnungen so reichen Lebens nicht behandelt werden: Jean Zieglers Privatleben, die große Rolle, die seine Frau Erica, sein Sohn Dominique und sein Enkel Theo, er hat noch vier weitere, aber auch sein Glaube für ihn spielen. Er ist nämlich nicht nur ein äußerst kritischer Sozialwissenschaftler, er gehört auch zu der sicher noch immer kleinen Minderheit von Menschen auf diesem Globus, die einen Widerspruch in sich vereinen, mit dem ich mich – seit ich politisch denke – immer wieder befasst habe. Nämlich mit dem Widerspruch von Christentum und Kommunismus. (Ich verweise auf das Stichwort „Religiöser Sozialismus“ bei Wikipedia, auch wenn es eher ein unzulängliches Fragment ist, um Platz zu gewinnen.) Die marxistische Philosophie diskutiert das Thema unter anderen Begriffen: Sie spricht über das Verhältnis von Idealismus und Materialismus. Ich habe mich mit diesem Problem schon in meiner Jugendzeit befasst, denn ich erlebte – wie Jean Ziegler Jahrgang 1934 – nicht nur den Faschismus und Weltkrieg, sondern auch den Kalten Krieg. Schon damals verstand ich nicht, weshalb das Christentum und der Sozialismus bzw. Kommunismus als unvereinbare Gegensätze galten und sich bekämpften.

 

Ziegler – Repräsentant eines demokratischen Kommunismus

 

In den meisten Religionen, mit denen ich mich daraufhin befasst habe, glaubte ich substanzielle Urformen sozialistischer Lebensdeutungen und Lebensentwürfe erkannt zu haben. Übten denn nicht beide Weltanschauungen harsche Kritik an den Reichen? Ergriffen sie nicht Partei für die Armen, Entrechteten, Ausgebeuteten, Versklavten, Vertriebenen, Heimat- und Obdachlosen, Hungernden und Kranken? Weshalb sollte der Glaube eines Mannes wie Jean Ziegler, der sein Leben den Armen, dem Kampf gegen Hunger und Krankheit gewidmet hat, in Zweifel gezogen werden, wenn er offen bekennt: „Ich bin Kommunist und glaube an Gott“. Ich lese gerade das neue Buch von Friedrich Martin Balzer über „Berufsverbote in der Kirche“. Darin geht es um den 1931 in die KPD eingetretenen protestantischen Pfarrer Erwin Eckert, der seinen Glauben beibehielt, aber dennoch von seinen Kirchenoberen, die selbst fast alle den heraufziehenden Faschismus unterstützten und Hitler wie einen neuen Messias anbeteten, gefeuert wurde.

 

Müssten nicht, statt kommunistischer Pfarrer und Wissenschaftler, vielmehr die sich als Christen aufspielenden Reichen, Kapitalisten, Spekulanten, Raubritter des Kapitals, Preistreiber, Landräuber und Umweltzerstörer, überhaupt die bigotten Parteichristen, und zwar im Namen Gottes, von den Kirchen bekämpft werden? Ich frage das nur. Denn Gott hat mich schon lange verlassen. Und ich kämpfe politisch für einen demokratischen Sozialismus, der den demokratischen Kommunisten nicht bekämpft, sondern demokratiefeindliche Kommunisten davon zu überzeugen versucht, dass der Fortschritt am ehesten in einzelnen Schritten erzielt wird. Auch wenn die notwendige Revolution gelingt, sollten die Errungenschaften der bürgerlichen wie der sozialistischen Aufklärung verteidigt werden. Vor wem? Vor denen, denen sie egal sind und die die private Bereicherung allen anderen menschlichen Zielsetzungen vorziehen. Ich weiß, dass das eine Utopie ist. Daher beneide ich Menschen wie Jean Ziegler, die Glauben können und Glaubensschwachen wie mir immer wieder Mut machen und Hoffnung geben können.
Mögest Du, lieber Jean, uns Ungläubigen noch lange erhalten bleiben und mit Deinen Büchern, Vorträgen und Zeitungsartikeln Mut machen und Hoffnung geben.

 

Noch ein paar wichtige Hinweise:
Jean Ziegler war lange Zeit Mitherausgeber der von mir gegründeten Vierteljahreszeitschrift BIG Business Crime. Die Zeitschrift erscheint heute als Inlett von Stichwort Bayer, der Zeitschrift der Coordination gegen Bayer-Gefahren. Jean Ziegler erhielt von der Stiftung Ethecon, die mit dem Internationalen ethecon Blue Planet Award 2012 „die mächtigste Stimme gegen den Hunger“, Jean Ziegler ehrte. Auf der Website von Ethecon ist auch meine Laudatio auf Jean Ziegler anläßlich dieser Preisverleihung nachzulesen. Sie handelt von Ziegler und der durch ihn angeregten Idee einer „dritten Aufklärung“. Außerdem existieren zwei Schriftsätze von mir, in denen Jean Ziegler für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde. Es kam aber nur zur Nominierung. Zum Problem Christentum und Kommunismus wird in absehbarer Zeit ein Essay über Erwin Eckert auf meiner Website erscheinen, in der auch auf Jean Ziegler Bezug genommen wird. Jean Ziegler schreibt für die Schweizer Gewerkschaftszeitung eine Kolummne, die ich allen an seinen Gedanken und Analysen Interessierten empfehle.

 

 


6. Die FR-Redakteurin Ilse Werder ist tot. Ein Nachruf. (29.03.2023)

Sie wurde 97 Jahre alt. Mit Stolz hätte sie schon vor Jahren auf ihre Lebensleistung verweisen und sich, die neueren Entwicklungen kritisch beobachtend, zurücklehnen können. Aber um Stolz zu zeigen, war sie zu bescheiden, und zurücklehnen kam gar nicht in Frage. Dazu war sie bis zur Verausgabung ihrer letzten Kräfte viel zu stark gesellschafts- und kulturpolitisch engagiert.

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In ihren verschiedenen Wirkungskreisen, also nicht nur im Rahmen ihrer Arbeit als Journalistin, war sie weit über Hanau hinaus eine hochgeschätzte Persönlichkeit. Weit mehr noch. Sie war eine respektable und durch zahlreiche Ehrungen, darunter das Bundesverdienstkreuz erster Klasse und die Willy-Brandt-Medaille, gewürdigte Institution. Vor allem machte sie sich – und dies über viele Jahrzehnte – einen Namen als brillante, gewissenhafte, und das hieß für sie, unbestechlich-kritische Journalistin. Sie wurde das Gesicht und moralische Gewicht der damals noch von der Gründergeneration geprägten, teils linkssozialdemokratischen, teils linksliberalen Frankfurter Rundschau. Ilse Werder gründete deren Hanauer Lokalredaktion und prägte in der Region ganz entscheidend deren Profil.


In dieser Zeit, ab den 1960er Jahren, gab es im Hanauer Raum zahlreiche, verharmlosend als „Skandale“ bezeichnete, schwere Wirtschaftsverbrechen. Sie sorgten bundesweit für großes Aufsehen, ja größte Aufregung. Es kam zu spektakulären Gerichtprozessen und sogar zu Gesetzesänderungen. Erinnert sei an den Fall „Plaumann“ in den 1970er Jahren. Plaumann beging schwere Umweltverbrechen. Er war ein Hanauer Fuhrunternehmer, der sich auf illegale Entsorgung industrieller Giftabfälle spezialisiert hatte und bundesweit, vor allem jedoch im Kreis Hanau, sehr große Mengen hochgefährlicher Abfälle, rechtswidrig, hochkriminell, in Landschaften, Flüssen, Seen und Kanälen verschwinden ließ.

 

Erinnert sei auch an das Umweltverbrechen der Atom-Müll-Entsorgungs-Firma Transnuklear, die verseuchte Abfallstoffe der Firma Nukem illegal – also kostensparend und gewinnbringend – aus dem legalen Wirtschaftskreislauf herausnahm. Diese beiden Firmen gehörten dem als seriöses Unternehmen geltenden Chemiekonzern Degussa AG und dem ebenso angesehenen Energiekonzern RWE. Es stellte sich heraus, dass die Manager der Konzerne das scheinbar unabhängige und schwerkriminelle Unternehmen Transnuklear selbst gegründet hatten. In diesem Zusammenhang kam es zu zwei Suizidfällen, von denen der, der sich in der Hanauer U-Haft ereignete, bis heute nicht zweifelsfrei aufgeklärt ist. Alles nachzulesen im Internet.

 

Zu einem weiteren Eklat im Raum Hanau, und zu einem Loyalitätskonflikt Ilse Werders, kam es, als der SPD-Bundestagsabgeordnete Gerhard Flämig überführt wurde, seine Lobbyarbeit für die Hanauer Atomindustrie der Bundestagsverwaltung verschwiegen zu haben. Denn schon damals waren die Abgeordneten verpflichtet, ihre Nebentätigkeiten offenzulegen. Aber Ilse Werder war vor allem Journalistin, sie konnte hart gegen sich selbst, aber auch gegen ihre Partei, die SPD, sein, wenn es darum ging, die sozialdemokratischen Inhaber politischer Ämter an ihre Plichten und Versprechen zu erinnern. Wünschenswert wäre, wenn die journalistische Arbeit von Ilse Werder einmal gründlich erforscht und dokumentiert würde. Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Hanauer und deutschen Sozialgeschichte.

 

Ilse Werders Zeit als FR-Redakteurin war die Zeit, als der Hanauer Anzeiger, die älteste Zeitung Deutschlands, ein lupenreines Parteiorgan der CDU war. Der Journalist Dieter Weirich, zuerst Funktionär der Jungen Union, dann Anhänger und engster Mitarbeiter der Hessischen CDU-Granden Dr. Alfred Dregger und Manfred Kanther, die die so genannte „Stahlhelmfraktion“ ihrer Partei anführten und heute wahrscheinlich der AfD nahestehen würden, hatte damals als Journalist des Hanauer Anzeigers der noch relativ links stehenden Sozialdemokratie in Stadt und Landkreis Hanau den offenen Klassenkampf erklärt.

 

Reserveroffizier und Journalist Weirich war der direkte Widersacher der FR-Lokalredakteurin Ilse Werder, die dem aggressiven CDU-Kurs des Hanauer Anzeigers mit ihrer eigenen Kritik an den Verhältnissen ein ernsthafter Konkurrent war. Das gelang ihr, indem sie den SPD- Mehrheiten in Hanau Stadt und Land auf ihre Weise, nämlich durch scharfe Kritik von links, unerschrocken Paroli bot. Dieter Weirich profilierte sich als erfolgreicher Sozialistenbekämpfer und bereitete so seine Kalte-Kriegs-Karriere vor. Über ein Jahrzehnt war er Intendant der Deutschen Welle, wurde später Buchautor, Unternehmer und Honorarprofessor. Bei Wikipedia sind seine „Verdienste“, die er sich hauptsächlich um die Privatisierung des Fernsehens und um andere neoliberale Projekte und Errungenschaften erwarb, sowie seine hohen Ehrungen und vielen Karrierestufen aufgelistet.

 

Der alleinerziehenden Mutter von drei Töchtern und einem Sohn, Ilse Werder,  eröffneten sich solche Karriere-Chancen nicht, obgleich ihre Leistungen mindestens ebenso wertvoll für die Gesellschaft, aus meiner Sicht viel wertvoller, waren. Ilse Werder dachte aber nicht an ihre Karriere. Sie befasste sich mit den akuten Problemen, die wir unter dem allzu weiten Begriff „Frauenfrage“ diskutieren. Ihr schenkte sie größte Aufmerksamkeit. Sie hatte August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ nicht nur gründlich gelesen, sondern auch richtig, nämlich gesellschaftspolitisch, verstanden. Und da ihre Geburts- und Heimatstadt Kassel war, wo sie als Sozialdemokratin, noch für das Rechtsanwaltsbüro ihres Mannes arbeitend, viele Menschen kannte, kannte sie auch die durch ihre Verfassungsdebatten bundesweit berühmt gewordene Elisabeth Selbert persönlich. Selbert hatte bekanntlich den Satz im Grundgesetz verankern lassen: „Mann und Frau sind gleichberechtigt“.

 

Ilse Werder nahm diesen Satz so wörtlich, wie er gemeint war. Er war ihr Lebensmotto und bestimmend für ihr Berufsethos. Er war ihre Legitimation für den Kampf um die gleichen Rechte der Frauen. Dabei vergaß sie nie, dass es über die Frauenfrage hinausgehrende Werte gibt: Die Natur, die Kenntnis über deren Rolle für Nahrung, Gesundheit und ästhetische Erziehung des Menschen, auch für unsere ästhetische und moralische Bildung und Frieden. So hat sie in einer Zeit, in der Gespräche über Bäume, über „Ozonlöcher“, „sauren Regen“ und „Waldsterben“ fast ein Verbrechen waren, mit künstlerischen Mitteln, nämlich Fotografien, die Schönheit der Bäume festgehalten und ihre Bilder in der damals neu gegründeten Hanauer Kunstgalerie Hild in einer sehr eindrucksvollen Ausstellung vorgestellt. Ich hatte die Ehre und das Vergnügen, dazu den einführenden Vortrag zu halten.

 

 

In diesem Zusammenhang findet sich auch das Motiv der Gründung des Hanauer Kulturvereins. Der schon lange nicht mehr unter uns weilende Lehrer und Hanauer Stadtverordnete Hubert Zilch, die FR-Redakteurin und Fotografin Ilse Werder und ich, der ich als Struktur- und Sozialplaner des Landratsamtes Hanau auch die kulturelle Infrastruktur immer im Auge hatte, kamen nicht ganz zufällig auf die Idee, einen Verein zu gründen, der vor allem die wichtige Geschichte der Hanauer Arbeiterbewegung lebendig halten sollte. Allerdings sollte er auch für ein stärkeres, eher alternativ zu den bürgerlichen Vereinen,  kulturelles Leben für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ermöglichen.

 

In Ilse Werders linkssozialdemokratischer, also auch gewerkschaftlicher Arbeit verbundener Tradition, dazu ihrer angespannten Familiensituation, sind die starken Wurzeln für ihr aktives Engagement in der Frauenbewegung zu finden. Sie war immer ganz vorn dabei, sowohl bei der Gründung der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen (AsF), von der dann auch die Gründer des Verbraucherschutzes und des Hanauer Kulturvereins ihre stärksten Impulse empfingen. Ilse Werder stand immer mit an der Spitze.

 

Als sie in den so genannten Ruhestand trat, wurde sie die erste Chronistin der Geschichte der Arbeiter- und der Frauenemanzipation der Region Hanau, Gelnhausen und Schlüchtern. Bisher hatten sich auf diesem Feld nur Männer hervorgetan. Die Region, die schon vorher ein SPD-Unterbezirk war, wurde in den 1970er Jahren bei der Gebiets- und Verwaltungsreform zum Main-Kinzig-Kreis und Gelnhausen der neue Sitz des Landratsamtes. Veränderungen, die ihren Aktionsradius für ihr sozialgeschichtliches und kulturpolitisches Engagement erweiterten. Denn der Main-Kinzig-Kreis ist einer der größten Kreise der Bundesrepublik Deutschland.

 

Ilse Werder war als alleinerziehende Mutter von vier Kindern nach Hanau gekommen. Nicht trotzdem, sondern deshalb war ihr persönliches Interesse an Politik viel umfassender, als man es von vielen anderen Journalisten und Journalistinnen gewohnt war. Sie war nicht nur besonders stark sozial- und bildungspolitisch, sie war auch kulturpolitisch und künstlerisch interessiert und engagiert. Ich hatte das große Glück, sie schon 1969 kennenzulernen und bis zuletzt eng mit ihr befreundet sein zu dürfen. Soweit mir zu Ohren kam, wir haben nie darüber gesprochen, hatte ich ihrem Einfluss zu verdanken, dass mich in der Zeit, als ich gerade mein Studium beendet hatte, der Landrat des Landkreises Hanau, Martin Woythal, zum Leiter der von ihm geplanten „Stukturabteilung“ machte, mir – dem damaligen Vorsitzenden der Jungsozialisten – die Leitung der kleinen Planungskommission für das neu zu errichtende „Klassenloses Krankenhaus“ anvertraute.

 

Dessen Planung wurde von den Konservativen und Chefärzten erbittert bekämpft und der Bau am Ende auch verhindert. Dabei wurden fast 50 Millionen D-Mark Steuergelder verplant und in den Sand gesetzt. Von dieser persönlichen Seite aus betrachtet, habe ich Ilse Werder eine wichtige Weichenstellung für meinen eigenen beruflichen Werdegang zu verdanken. Denn nach rund 12 Jahren Berufstätigkeit als Werkzeugmacher hatte ich die Mittlere Reife an einer Abendschule und das Abitur am Hessenkolleg nachgeholt und in Frankfurt und Marburg Politikwissenschaft und Germanistik studiert. Gleichzeitig engagierte ich mich in der SPD für deren Sozial- und Bildungspolitik. Wir wurden stille Verbündete. Was sie an meiner Haltung guthieß, war, dass ich mich damals in jener noch ziemlich starken Minderheit der Hessischen Sozialdemokraten engagierte, die den Kniefall der SPD vor dem Kapital, für den vor allem das Godesberger Programm stand, durch innerparteiliche Opposition wieder rückgängig zu machen versuchte. Wie man inzwischen weiß – vergeblich. 2006 trat ich dann aus der SPD aus. Ilse Werder blieb ihr verbunden.

 

Sehr gut in Erinnerung habe ich Ilse Werders Kampfgeist in der Phase der Hanauer Politik, in der sie mit Hubert Zilch, mir und anderen, den Hanauer Kulturverein gründete. In diesem Verein war sie – wie in den anderen Vereinen, an deren Gründung sie maßgeblich beteiligt war – bis zuletzt aktiv. Mich haben linke Sponti-Frauen, als sie den Hanauer Kulturverein kaperten, aus dem Kulturverein hinausgeekelt. Der Begriff Mobbing war damals noch nicht in den deutschen Wortschatz eingedrungen. Aber inzwischen ist der Kulturverein wieder in guten Händen und leistet großartige Arbeit. Ilse Werder hatte inzwischen in dem Spessartdorf Katholisch-Willenroth ein Bauernhaus gekauft und „Werders Kulturscheune“ gegründet, wo sie wunderbare Sommerprogramme organisierte. Zudem entwickelte sie dort eine derart enge Bindung an die Natur, dass wir sie liebevoll „Kräuterhexe“ nannten.

 

Im sogenannten Ruhestand schrieb sie Bücher und nahm an vielen öffentlichen Veranstaltungen des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Bundes der Antifaschisten und anderer sozial- und umweltkritischen Verbände teil. Sogar, als ihr das ohne Gehhilfe gar nicht mehr möglich gewesen wäre. Zuletzt sahen meine Frau, Hildegard Waltemate, und ich sie auf ihrem Geburtstag im Oktober 2022. Damals war ihre größte Sorge, ihr Augenlicht zu verlieren. Ein schwerer Schlag für einen Menschen, der hauptsächlich liest und schreibt. Danach erkrankte sie auch noch an Corona. Sie telefonierte noch mit uns, denn auch meine Frau ist bei „Frauen helfen Frauen“ und im „Archiv Frauenleben Main-Kinzig-Kreis“ engagiert. Aber es ergab sich keine Möglichkeit mehr, unsere Verabredung, uns bald noch einmal zu treffen, in die Tat umzusetzen. Wir sind sehr traurig, eine so wunderbare, liebenswerte Freundin verloren zu haben.

 

So empfinden es sicher auch viele andere Menschen, die sie persönlich kannten, erlebten und ihr immer dankbar sind für ihr großartiges Lebenswerk, ihre Solidarität und Freundschaft. Ihren Kindern und Enkeln gilt unser tiefes Mitgefühl. Wir versprechen, dass wir die Erinnerung an sie, ihr soziales, kulturelles, umweltpolitisches und kapitalismuskritisches Engagement wachhalten, dass wir in ihrem Sinne auch friedenspolitisch weiter arbeiten werden, solange wir das können. Sie war und bleibt Vorbild, für uns und die vielen jungen Menschen, die sich heute für eine bessere Zukunft engagieren.


5. Meine Herrn und Herrinnen! – Einige abwegige Gedanken zum Frauentag 2023 (08.0.2023)

Für einen demokratischen Sozialisten ist die Gleichberechtigung der Frau spätestens seit August Bebels noch immer lesenswertem Buch „Die Frau und der Sozialismus“ (Erstdruck 1879) eigentlich kein Thema mehr. Bebel, noch tief verwurzelt in der Welt des Patriarchats, selbst noch ein wenig Macho, hat es tatsächlich geschafft, ein Standardwerk über die Frauenfrage zu schreiben, das bis heute nur wenig an Aktualität verloren und meines Erachtens einen größeren Erklärungswert für die noch immer vorhadenen Ungleichheiten und deren Überwindung hat als die meisten so genannten feministischen Kritiken.


Natürlich überlegt man sich als Mann, ob es nicht Zeitverschwendung ist, sich in die laufenden Debatten einzumischen. Denn was hat man nicht schon alles publiziert, und es wurde meist von denen, für die es geschrieben war, ignoriert. So habe ich im August 2022 für ein Sonderheft über das Thema „Armut – Die angetastete Menschenwürde“ der Zeitschrift Ossietzky einen Beitrag über die „Armut der Reichen“ verfasst, der dann dort unter der Überschrift „Jagdgenossinnen auf die Macht“ erschien. Jetzt habe ich mir überlegt, ob es nicht besser wäre, diesen Artikel noch einmal – und eben zu diesem Frauentag – als Newsletter zu versenden, statt einen neuen zu schreiben. Denn was ich dazu zu sagen habe und gesagt habe, wird – zum Schaden der guten Sache – um die es den meisten benachteiligten, unterbezahlten, ausgebeuteten Frauen geht, nämlich um Löhne und Gehälter, die ein Leben ohne Not ermöglichen, um menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen, missverständlich interpretiert. Was sich seit Jahren vor der Öffentlichkeit abspielt, spricht nicht dafür, dass sich die Verhältnisse in absehbarer Zeit grundlegend verändern. Pandemien, Kriege um Weltmärkte, Weltmacht und Klimakrise liefern vielmehr immer wieder Argumente, den Sozialabbau und das damit einhergehende soziale Unrecht an all jenen fortzusetzen, ohne deren Arbeit das ganze System, das sie ausbeutet, zusammenbrechen würde.

 

Daher die Neuauflage meines Beitrags zur Armutsfrage aus 2022:


Die teils hitzigen Debatten über Gender Diversity oder Female Leadership haben sicher dazu beigetragen, die fortbestehende Ungleichberechtigung der Frauen in unserer Wertegemeinschaft bewusster zu machen. Allerdings geht es bei dieser Art von „Gendern“ nicht wirklich – wie manche glauben – um die Durchsetzung der Angleichung von Löhnen und Gehältern berufstätiger Frauen an die der Männer. Auch nicht um die rechtliche und materielle Besserstellung alleinerziehender und oft bedrückender Armut ausgelieferter Mütter. Es geht, wie auch die neueste Gesetzgebung, das im Juni 2021 vom Bundestag beschlossene „zweite Führungspositionen-Gesetz“ für börsennotierte Unternehmen, um ein höchst internes Eliten-Problem. Erhöht werden soll der Anteil der Frauen in den unverschämt hoch honorierten Entscheidungsgremien der Großwirtschaft.  In den Aufsichtsräten von Großunternehmen hat sich das aus 2015 stammende erste Gesetz dazu schon bewährt. Für die Vorstände von Börsenunternehmen wurde nun noch einmal vorsichtig nachgelegt.


Doch Female Leadership hat nichts mit dem Kampf um die Überwindung der Armut zu tun, die mit Recht als weiblich bezeichnet wird. Es geht auch nicht um die Gleichstellung der Geschlechter in Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt, sondern um ein modernes Refeudalisierungsprogramm. Es geht um eine Gleichstellung von Herren und Herrinnen. Ein offensichtlich einflussreicher Lobbyistinnenverband namens FidAR (Kürzel für „Frauen in die Aufsichtsräte“) kann hier schon auf einige Erfolge verweisen. Hoch qualifizierte Frauen wollen  ihren Anteil an den überbezahlten Jobs in den nach mehr als 70 Jahren Grundgesetz noch immer von Männern dominierten „Herrschaftsbereichen“. Die Konfliktlinie verläuft nicht allgemein zwischen Mann und Weib, Arbeitern und Arbeiterinnen, sondern zwischen privilegierten Herren und privilegierten Damen, also Herrinnen, die ebenfalls nach ganz oben wollen. Es geht nicht um die Überwindung von Armut, sondern um die Gleichberechtigung zwischen männlichen und weiblichen Eliten hoher Einkommens- und Vermögensklassen; um ein Stück von den ganz großen Geld- und Machtkuchen.


Das Armutsproblem von Frauen, wie übrigens das von Männern, das es ja auch noch gibt, bleibt von diesen Macht- und Klassenkämpfen allerdings völlig unberührt. Es dreht sich bei dieser spezifischen Genderdebatte um die Überwindung der ungleich verteilten Verfügungsgewalt in den (trotz Mitbestimmung) systembedingt demokratiefreien Kapitalgesellschaften. Und damit auch um die Gleichrangigkeit der Herren und Herrinnen im Bereich des Letzt-Entscheidungsrechts der Bereiche private Kapitalverwertung und private Aneignung gesellschaftlichen Reichtums. Warum reite ich auf „Herren und Herrinnen“ herum? Als noch mittelhochdeutsch gesprochen wurde, galt das System des Feudalismus, eine auf dem Lehnsrecht aufgebaute Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in der alle Herrschaftsfunktionen von der über den Grundbesitz verfügenden aristokratischen Oberschicht ausgeübt werden. Leibeigene und hörige Untertanen mussten Frondienste leisten, also Herrendienste. Auch für die adelige verheiratete Frau, die als Frouwe angesprochen wurde. Das bedeutet Herrin. Der Vertreter des später an die Macht und zur Herrschaft gelangten Bürgertum, zumal der spießige Kleinbürger, der dem Großbürger an Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht nachstehen wollte, trat natürlich gern in die Fußstapfen des Edelmanns und nannte sich ebenfalls Herr. Die Dame an seiner Seite durfte sich wieder als Herrin fühlen und die Dienstmägde mussten sie nicht selten als „gnädige Frau“ ansprechen. Die unter der neuen, der bürgerlichen „Klassenherrschaft“ ausgebeutete, in struktureller Armut, in Elend und Unwissenheit gehaltene Masse der befreiten Hörigen und Leibeigenen wurde zu abhängigen Lohnarbeitern. Soweit sie sich danach als Arbeiterklasse organisierten und zum Ziel gesetzt hatten, die ausbeuterische Bourgeoisie durch Enteignung zu entmachten, verstanden sie sich als Proletarier und Proletarierinnen und nannten sich untereinander Genossen und Genossinnen. Sie taten dies im Bewusstsein, gemeinsam für das hehre Ziel zu kämpfen, das die bürgerlichen Revolutionäre einst den Armen der ganzen Welt versprochen hatten, aber, kaum zur Macht gekommen, hemmungslos verrieten: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und die allgemeinen Menschenrechte. Auch für die Frauen.


Der Sozialdemokrat August Bebel, der die seinerzeit noch marxistische SPD führte, schrieb im Gefängnis sein bis heute lesenswertes Buch: „Die Frau und der Sozialismus“. Bebel hatte die Schwesterlichkeit nicht vergessen. In seinem Buch ist zu lesen, was einst die SPD ausmachte und ihr Stimmen, auch Frauenstimmen, brachte: „Die volle Emanzipation der Frau und ihre Gleichstellung mit dem Mann ist eins der Ziele unserer Kulturentwicklung, dessen Verwirklichung keine Macht der Erde zu verhindern vermag. Aber sie ist nur möglich aufgrund einer Umgestaltung, welche die Herrschaft des Menschen – also auch des Kapitalisten über den Arbeiter – aufhebt. Jetzt erst wird die Menschheit zu ihrer höchsten Entfaltung gelangen.“ (Bebel, Die Frau, Frankfurt a.M. 1977, S. 522)
Um dieses Ziel zu erreichen, genügte das Frauenwahlrecht nicht. Auch nicht die paritätische Besetzung von Aufsichtsräten und Vorständen mit Arbeitnehmervertretern, die nach den Erfahrungen mit dem von Wirtschaftseliten unterstützten Nationalsozialismus gegen das Großkapital durchgesetzt wurde. Und es wird sich auch nichts ändern, wenn künftig ausschließlich Frauen in Aufsichtsräten und Vorständen die Geschäfte der Investoren betreiben. Die jüngsten Debatten und Gesetzesänderungen, so erfreulich sie für Elitefrauen sein mögen, sind für die Armutsprobleme der Frauen, die objektiv der Arbeiterklasse angehören, die weiterhin nur die Wahl haben, ihre Arbeitskraft an einen „Arbeitgeber“ oder eine „Arbeitgeberin“ zu verkaufen, allenfalls mittelbar.


Frei gewählte Gesetzgeber kapitalistischer Demokratien können übrigens keine Garantie geben, dass Löhne und Gehälter, wenn sie denn etwas erhöht werden, nicht gleich wieder von den Reichen und denen, die schnell reich werden wollen, durch strategische Preissteigerungen in Umsatz und Profite verwandelt werden. Denn die mächtigen „Reichen und die Superreichen“ (ich empfehle den 1969 bei Hofmann und Campe erschienen Klassiker des US-Amerikaners Ferdinand Lundberg), haben schon immer ganz andere Sorgen, nämlich sich überall in der Welt darum zu kümmern, dass ihr Prestige, ihr Einfluss auf Staaten, Parteien, Politiker, Wissenschaftler, Medien und natürlich ihre Profite steigen, dass also auch die leidigen Arbeitskosten (einschließlich der Lohnnebenkosten) gesenkt werden.
Nach dem zwar nicht totalen, aber doch fatalen Sieg des Kapitals über die Arbeit, der ja nicht nur über den Ostblockkommunismus, sondern auch über die reformsozialistischen Arbeiterbewegungen des freien Westens errungen wurde, schämen sich die parlamentarischen Handlanger und öffentlichen Sprachrohre der Reichen und der Superreichen nicht einmal, weiterhin den Antikommunismus zu schüren, wohl wissend, dass er auch eine der stärksten Wurzeln des Antisemitismus ist. Warum? Weil sie verhindern wollen, dass „bei denen da unten“ noch einmal ein revolutionäres oder auch nur reformsozialistisches Klassenbewusstsein entsteht. Für ihren Eigentumsschutz vor Sozialromantikern, Sozialisten und Kommunisten, Protest-, Reform- und ökologisch argumentierenden „Verbotsparteien“ hält sich diese Klasse freiheitliche Demokratien, die sie vor der überfälligen Demokratisierung der Wirtschaft schützen; investiert sie in gewerkschaftsfeindliche Firmen, aber auch rechte Diktaturen, die ihnen Billigstlohnarbeit garantieren; verübt sie, um Steuer-, Sozial- und Umweltschutzkosten zu senken, skrupellose Wirtschaftsverbrechen, von denen „Dieselgate“, der „Cum-Ex-Steuercoup“ und „Wirecard“ nur die Spitzen eines monumentalen Eisgebirges sind.


Ich kann das Thema „kriminelle Ökonomie“ hier nicht vertiefen. In der Armutsforschung spielt es leider noch keine Rolle. Ich empfehle aber, die Bücher des Schweizer UNO-Beauftragten Jean Ziegler zu lesen, der nach den Gründen für den Hunger forscht, die Ursachen für Menschenrechtsverletzungen ergründet. Er vermittelt seit Jahrzehnten eine realistische Vorstellung von den globalen Ausmaßen und Schrecken dessen, was er als „kannibalische Weltordnung“ charakterisiert. Es ist zum Beispiel die Ordnung von Multi-Milliardär Warren Buffet, von dem folgendes Zitat überliefert ist: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“ Letzter Zweck dieses Klassensystem ist es, die kapitalistische Freiheit vor all jenen zu verteidigen, die sie mit dem Ziel zu überwinden versuchen, die Armut und das Elend zu beenden. Wird sich das ändern, wenn mehr Frauen in den systemrelevanten Aufsichtsräten und Vorständen der Konzerne sitzen? Ich möchte es glauben können.

 

 

Hans See


4. HEILE UND HERRSCHE! – Eine gesundheitspolitische Tragödie (01.0.2023)

Hans See über das neue Buch von Berd Hontschik „HEILE UND HERRSCHE! – Eine gesundheitspolitische Tragödie“


Westend Verlag 2022

 

Bernd Hontschik, Chirurg, Buchautor und Kolumnist der Frankfurter Rundschau, ist einer der letzten Kritiker des Gesundheitswesens, die sich – noch oder wieder? – wagen, im Kontext ihrer Analysen an den genialen Karl Marx zu erinnern, der das bis heute intellektuell und politisch realistischste und somit auch wirksamste Instrumentarium systematischer Kapitalismuskritik geschaffen hat. Das Gesundheitswesen, das nach Hontschik längst zur Gesundheitswirtschaft verkommen ist, ist nun einmal ein zentraler Bestandteil des kapitalistischen Wirtschaftssystems.

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Doch Hontschik ist zu klug, in seinen kritischen Schriften die rituellen und zeremoniellen Versatzstücke der einstigen Klassenkampfrhetorik zu bemühen, ohne die man in den 1970er Jahren, die im Zeichen der sozialliberalen Reformpolitik standen, gar nicht zur Kenntnis genommen worden wäre. Er macht, was schon der junge Marx machte: Er beschreibt präzise und analysiert knallhart die herrschenden Verhältnisse. Marx wusste, „man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“

 

Das ist die Methode Hontschik: In glasklarer Sprache, für den „Normalbürger“ leicht verständlich, schildert er, was in den vergangenen Jahrzehnten unter vielversprechenden Namen wie Privatisierung und Digitalisierung aus dem Gesundheitswesen gemacht worden ist: eine Gelddruckmaschine für Investoren, eine standardisierte und kapitaldominierte Gesundheitswirtschaft, die völlig aus dem Ruder läuft, weil deren Entwicklung fast nur noch von Shareholdern, Benchmarksystemen und Aktienkursen vorgegeben wird.  

 

Maßgeblich beteiligt an dieser Entwicklung war und ist die Pharmaindustrie. Über diese schreibt Hontschik: „Es gibt kein Verbrechen, dessen sich die Pharmaindustrie noch nicht schuldig gemacht hat. Manipulation oder Unterdrückung von Studiendaten, gekaufte Wissenschaftler, Erpressung, Verleumdung und Menschenversuche mit katastrophalem Ausgang – alles ist längst bekannt.“(S.73) Die Liste ist viel länger. Er geht noch einmal – nahezu lexikalisch – die größten dieser Verbrechen durch. Er erinnert uns an Contergan, Glyphosat, Babypuder, usw. usw. Am Ende lässt er auch die Impfstoffproduzenten nicht aus, die auf die Politik einen juristisch noch nicht aufgearbeiteten, aber längst als zumindest illegitim durchschauten Einfluss nahmen.

 

Hontschik spricht von Korruption und Interessenkonflikten, von „lukrativen Geschäftverbindungen zwischen Virologen, Testherstellern und Impfstoffproduzenten“. Und wer erinnerte sich nicht an die illegalen Geschäfte mit den Masken, die Hontschik gar nicht erst erwähnt. Die Impflobbyisten, ich nannte sie von anfang an „Impferialisten“, kassierten unfassbare Summen an Staatsgeldern, befreiten sich vertraglich von jeglicher Haftung und verhängten Patentblockaden zu Lasten der Armen Länder des globalen Südens. Hontschik diagnostiziert, dass die Corona-Pandemie etwas sichtbar gemacht hat, was er als Weiterentwicklung der Gesundheitswirtschaft deutet: Die Gesundheitsherrschaft.

 

Was ist Gesundheitsherrschaft? Nach Hontschik entwickelt sich aus dem Missbrauch der Medizin die Gesundheitswirtschaft, die schon an sich die Grenzen des vertretbaren weit überschreitet, und aus dieser entsteht nahezu unbemerkt ein die kapitalistische Demokratie selbst gefährdendes Herrschaftsinstrument. Die Wurzel aller Übel im Gesundheitswesen erkennt Hontschik darin, dass „eine Gesellschaft ihren Reichtum nicht mehr für das Funktionieren ihrer Sozialsysteme verwendet, sondern die Sozialsysteme in Quellen neuen Reichtums für Kapitalgesellschaften verwandelt…“ (S116)

 

Diese Fehlentwicklung ist aber nichts als die logische Konsequenz der gesamten kapitalistischen Entwicklung, die nun einmal alles kapitalisiert, was kapitalisierbar ist, um die Renditen zu sichern und zu erhöhen. Was ist aber – neben dem Friedensversprechen der Rüstungswirtschaft – renditeträchtiger als das Gesundheitsversprechen, das die Medizin ja nicht nur dem Patienten, sondern auch dem gesunden Menschen, der gesund bleiben, sogar möglichst gesund sterben möchte, hauptsächlich in Form von Medikamenten nun einmal gibt. Für ihre Gesundheit und ihre Gesundung geben die Menschen, falls sie eines haben, ihr ganzes Vermögen aus.

 

Einen Abschnitt seines Buches nutzt der Autor, seine Philosophie zu erklären, seinen Standort in diesem System und sein Verhältnis zur Wissenschaft zu bestimmen. Hierbei rekurriert er auf den Arzt und Denker Thure von Uexküll (nicht zu verwechseln mit dem Stifter des Alternativen Nobelpreises Jacob von Uexküll), der für eine „integrierte Medizin“ steht und damit für ein Gesundheitswesen, in dem Medizin als „emphatische Humanwissenschaft“ verstanden wird. Mit dieser Darlegung seines eigenen Grundverständnisses der Medizin richtet Bernd Hontschik auch einen Appell an die Mediziner, die Gesellschaft, die Politik, die Wirtschaft und die Medien, leider – aber verständlicherweise – nicht an die Gewerkschaften, die die Gesundheitsreformer, zu denen auch ich gehörte, anfang der 1970er Jahre noch mit Stolz als ihre engsten Verbündeten betrachten durften. 


3. Wie der Frieden durch die Ukraine und für sie gewonnen werden könnte (24.02.2023)

Keine Forderung, kein Manifest: Nur ein ganz persönlicher Vorschlag.

 

Verfasser: Prof. Dr. Hans See, Gründer und Ehrenvorsitzender der Bürger- und Menschrechtsorganisation Business Crime Control e.V

 

Vorbemerkungen

 

Einen Krieg wie den zwischen dem Angreifer „Russische Föderation“ und Verteidiger Ukraine so zu beenden, dass am Ende nur Gewinner übrigbleiben, klingt illusionär, ist aber möglich. Dazu müssen die, die ständig ihren Friedenswillen beteuern, von ihren festgefahrenen Standpunkten abrücken, besonders wenn es sich um uneingestandene Geschäftsinteressen und globalstrategische Zielvorstellungen handelt, Abschied nehmen.

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Die immensen Verluste, die jeder Krieg, auch dieser verursacht, verbietet es eigentlich, den Begriff Gewinner des Friedens zu benutzen. Dazu gibt es schon zu viele Verlierer, und zu viele unschuldige Opfer. Die größten Schäden, die Verluste der Menschenleben, sind nie wieder gutzumachen. Ich weiß, wovon ich rede. Mein Vater, ein Kriegsgegner und Antifaschist, musste dennoch Soldat werden und kam nicht wieder zurück. Vermisst für alle Zeiten. Und wer von den Politikern interessierte sich nach 1945 für die Vermissten? Bis heute vermisse ich eine angemessene Form, ihrer zu gedenken.


Die Frage der Wiedergutmachung und der gerechten Strafen für nachgewiesene Verbrechen, die die Geschädigten, die Opfer, nach Ende jedes Krieges, ja schon bei den Vorverhandlungen fordern, oft sogar zur Bedingung für einen Waffenstillstand oder gar Friedensverhandlungen machen, kann nicht ausgeblendet werden. Dies sollte aber nicht dazu führen, dass der Vorschlag von vornherein verworfen wird. Es sind dies Fragen, die am Ende der Verhandlungen stehen müssen, auch wenn es den verständlichen Wunsch, ja die Forderung geben wird, sie zuerst zu klären.

 

Der konkrete Vorschlag

 

Es geht zuerst um Waffenstillstandsverhandlungen. Sie könnten beginnen, wenn die Ukraine, unterstützt von jenen Staaten, die bisher ihren Verteidigungskrieg mit Milliardensummen, leichten, schweren und schwersten Waffen überhaupt ermöglichten, zum Ausgangspunkt einer Waffenstillstandsverhandlung das Angebot an Putin richtet, die Ukraine zu einem völkerrechtlich neutralen Staat zu machen. Das heißt, weder der NATO noch der Europäischen Union beizutreten und keine ausländischen Militärbasen auf ihrem Boden zu dulden. Damit müssten die Sicherheitsinteressen Russlands, die ja von Anfang an im Zentrum des Konflikts zwischen Rußland und der Ukraine standen, optimal befriedigt werden können.

 

Die Ukraine muss daher glaubhaft den Willen zeigen und vermitteln, dass sie auf die West-Integration verzichtet, sich bewusst als neutralen Pufferstaat zwischen den NATO-Staaten und der Russischen Föderation etabliert und mit allen Nachbarstaaten friedlich wirtschaftlich und kulturell kooperieren wird. Sie fordert das volle Recht auf eigene Verteidigung, so wie es die Schweiz hat, und akzeptiert ein international kontrolliertes Wiederaufbauprogramm, an dem sich alle Staaten, auch die Russische Föderation, beteiligen können. Ziel muss es sein, dass die direkt und indirekt an diesem Krieg Beteiligten durch Wiederaufbauhilfen zur inner- und zwischengesellschaftlichen Befriedung ihren Beitrag leisten.

 

Die Russische Föderation muss nach diesem Angebot und einem ausgehandelten Waffenstillstand ihre Truppen hinter die Grenzen zurückziehen, die sie am 24.Februar 2022 völkerrechtswidrig überschritten hat. Die Frage nach der Rückgabe der Krim wird – ähnlich wie die des Saarlandes – zehn Jahre nach der Neutralitätserklärung und – in diesem Fall – ihrer Bewährung durch eine international überwachte Volksabstimmung, geklärt. Das könnte auch für die Gebiete der Ost-Ukraine gelten, die Präsident Putin bisher ohne völkerrechtliche Anerkennung zum russischen Territorium erklärt hat.

 

Es ist hoffentlich klar, dass ein solcher Vorschlag keine Chance hat, wenn die Führung der Ukraine weiterhin glaubt und auch der Welt glauben zu machen versucht, sie könne Rußland besiegen, ohne es seinerseits zu erobern. Aber dies würde einen Dritten Weltkrieg auslösen, der auch ohne Atomwaffen die Zukunft der Gattung Mensch infrage stellt, weil kein Krieg dazu beiträgt, die Klimaziele zu erreichen und die noch größere Katastrophe zu verhindern. 


2. Im Krieg verlieren auch die Sieger – Nur der Frieden kann gewonnen werden (23.02.2023)

Rezension:
Daniela Dahn
Im Krieg verlieren auch die Sieger – Nur der Frieden kann gewonnen werden.
Rowohlt Taschenbuch Verlag,
Hamburg 2022

Schon ein ganzes Jahr verteidigen nun die Ukrainer tapfer und unter unglaublicher Opferbereitschaft mit Todesmut nicht nur ihren von Putins Truppen überfallenen Staat, sondern – was uns Regierungen und Medien der USA und der meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union und der NATO unablässig ins Gedächtnis rufen – auch uns, den Westen, die Hüter der Bürger- Menschenrechte, der rechtsstaatlichen Demokratie, das Bollwerk der Freiheit.

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Was soll man zu einem solchen traurigen Jahrestag sagen? Viele werden die Toten und Verwundeten zählen, an die Vergewaltigten erinnern. Den Ukrainern danken und gratulieren. Ihre Opfer werden sicher nicht vergessen, solange dieser Krieg dauert. Danach werden vielleicht Gerichthöfe versuchen, Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Aber ist nicht schon der Begriff Kriegsverbrechen falsch, ein Pleonasmus. Ist nicht jeder Krieg ein Verbrechen. Und wenn die Angreifer eindeutig die Schuldigen sind, machen sich im Krieg nicht auch die Verteidiger, auch wenn sie bestreiten würden, dass in ihrem Verteidigungskrieg das rechtsstaatlich verwerfliche Prinzip der Rache eine Rolle spielt, schuldig?

 

Da ich unter anderem so etwas wie ein Spezialist für gesellschaftspolitische Sachverhalte bin, die systematisch verharmlost, totgeschwiegen, als Verschwörungsideologien abgefertigt oder von Experten ins Reich des Irrationalismus verbannt werden, würde ich ein ganzes Buch schreiben müssen, um dieses Jahrestags zu gedenken. Über Putin als Verbrecher, der er schon war, als er noch von den westlichen Politikern, vor allem den bundesdeutschen, wie ein neuer Zar hofiert wurde. Ein Buch, in dem von den freiheitsliebenden Investoren der kapitalistischen Demokratien die Rede ist, die, als der Eiserne Vorhang endlich gefallen war, manche schon vorher, in dem am Boden liegenden, hilfesuchend zum Kapitalismus überlaufenden Rußland, eine Immobilie von kontinentaler Größe, ein Riesenrohstofflager (und nicht nur für Öl, Gas und Holz) sahen. Manche spekulierten sogar schon, dass es neues Aufmarschgebiet der NATO im künftigen Kampf gegen das noch immer kommunistisch kommandierte, aber schon erfolgreich kapitalistisch produzierende und weltpolitisch agierende China werden könne.

 

Ein Buch zu diesem Jahrestag müsste zugleich ein Buch über die Geschichte der Legionen, ja ganzer Völker sein, die immer wieder bereit waren, für die Freiheit anderer alles zu geben, sogar ihr Leben. Natürlich in dem Glauben, auch ihre eigene Freiheit zu gewinnen. Daher müsste ich viel über die Fremdenlegionen dieses Planeten schreiben, über Söldner, die für die Reichen und Mächtigen ihres eigenen Landes, aber auch, wie in der Ukraine heute, für die Reichen und Mächtigen der kapitalistischen Demokratien in den Krieg ziehen und dies auch weiterhin mit dem Mut der Verzweiflung tun, weil sie gar keine Alternative haben. Würden wir diesen Krieg nicht bezahlen, wäre er schon verloren. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass wir schon vorher viel investiert haben, um die Ukraine für den Westen, die EU und die NATO zu gewinnen.

 

Ein solches Buch zum Jahrestag würde natürlich auch von den Werten selbst handeln müssen, für die Menschen zu kämpfen und zu sterben bereit waren und noch immer sind, und dies, obgleich es zu keinem Zeitpunkt ihre eigenen Werte waren, von denen sie aber träumten, die sie sich oft selbst versprechen, sonst wären sie nicht bereit, ihr Leben dafür zu opfern. Nun, da ich selbst ein solches Buch nicht mehr zu diesem Jahrestag werde schreiben können, allenfalls zum zweiten, kann ich zu diesem eines empfehlen.

 

Es beleuchtet zwar von einer ganz anderen Seite diesen Krieg, aber meinem Grundüberzeugungen und Gedanken zu diesem Themenkomplex kommt es sehr nahe. Ich habe es mit großem Gewinn gelesen und kann es jedem empfehlen, der genug hat von der Propaganda der Kriegsparteien und ihrer Finanziers, auch von den Expertisen der handverlesenen „Friedensforscher“, bei denen man sich fragt, ob sie ihre Institute nicht besser als Konflikt- und Kriegsforschungseinrichtungen bezeichnen würden.

 

Daniela Dahn, die dieses Buch jetzt herausgegeben hat, ist eine seriöse, glaubwürdige Vertreterin der deutschen Friedensbewegung. Sie unterscheidet sich von vielen immer wieder in den Talkshows um ihre Meinung befragten dadurch, dass sie sich dem tagespolitischen Kriegsgeschrei bewusst entzieht, gründliche Hintergrundrecherche betreibt und mit großer sprachlicher Klarheit Probleme beschreibt, die von den handverlesenen Analytikern und Prognostikern vergessen oder als unwichtig denunziert werden. Daniela Dahn nimmt die unantastbare Würde des Menschen, die in Kriegen nichts mehr gilt, weiterhin ernst, damit auch das Recht auf Leben, auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Sie fragt nicht, wie der Krieg, sondern wie der Frieden gewonnen werden kann.

 

Denn, so ihre These, im Krieg verlieren auch die Sieger. Natürlich weiß sie, was diesem Axiom entgegensteht, ihm scheinbar widerspricht, dass es in jedem Krieg auch Kriegsgewinnler gibt. Warum sollten sie für Frieden sein, wenn sie in ihren Villen, auf ihren Yachten den Laptop anschalten und sehen, wie ihre Aktien steigen? Denn der Krieg ist ein gigantisches Geschäft. Natürlich sind Dahns Essays keine wissenschaftlichen Studien, aber sie basieren auf kritischen Erkenntnissen und sind hervorragende Entwürfe für Friedensforschunfsprogramme. Allein ihr Essay über das „Modell Maidan – illegal aber legitim“, in dem sie über die Grundlagen politischer Macht nachdenkt, bietet mehr als alles, was in diesem Kriegsjahr in den Mainstream-Medien an aufklärenden Informationen geboten wurde.

 

Ich referiere ihre Beiträge hier nicht. Zu schnell glaubt man, sich über eine Rezension genug informiert zu fühlen und sich die Lektüre ersparen zu können. Man sollte sich aber über dieses Buch nichts erzählen lassen, man sollte es selber lesen. Dann kann man in den vielen Diskussionen, die meist nur auf der Grundlage von Tagesnachrichten, Kommentaren und Talkrunden geführt werden, wirklich mitreden. Sie liefert ihren Leserinnen und Lesern fundierte Gegenargumente, die sie aus verschiedenen Anlässen zwischen 2020 und 2022 schrieb und nun in Form eines Sammelbandes mit Essays publizierte. Man kann ihr dazu nur gratulieren. Es wird die Zahl derer erhöhen, die ihren Kopf dazu benutzen, Frieden zu schaffen – ohne Waffen.


1. Ein erfahrener Innenminister wird Chef der Bundeswehr – Was heißt das? (18.01.2023)

Über die Gründe des Rücktritts der Verteidigungsministerin Lamprecht kann man sicher noch lange streiten. Aber macht das Sinn? Ich denke, es würde eher ablenken von dem Problem der Nachfolge. Der Sozialdemokrat Boris Pistorius ist ein erfahrener und weithin geschätzter Innenminister. Dass ausgerechnet auf ihn die Wahl der Nachfolge fiel, mag viele Gründe haben, die ja auch schon als Vorschußlorberen benutzt werden. Doch es ist merkwürdig, dass ein ganz zentrales Problem – bisher jedenfalls – unerwähnt geblieben ist. 

 

Es ist ein altes und doch immer aktuelles Thema, dass durch die so genannte Globalisierung der Wirtschaft, durch die immer größeren Staatenbündnisse (und umfangreicheren Vertragssysteme) die Souveränität der Nationalstaaten automatisch eingeschränkt wird und fast undiskutiert eine Art Weltinnenpolitik, zumindest jedoch eine kontinentale Innenpolitik entsteht, die das traditionelle Denken, das Innen- und Außenpolitik streng auseinanderhält, untergräbt. Das hat militärpolitische Konsequenzen.

 

Man denke nur an die Unmöglichkeit eines erfolgreichen nationalen Kampfes gegen das internationale Wirtschaftsverbrechen, gegen kriminelle Oligarchen, CumEx- und Wirecard-Gangster. Aber vor allem an die durch Widerstand und systematische Missachtung von Wirtschafts- und Umweltstrafgesetzen an allen guten politischen Absichten vorbei ständig größer werdenden Umweltverbrechen mit den ständig wachsenden Gefahren von Umweltkatastrophen.

 

Da braucht es keine Kriege mehr, um Bilder wie die aus der durch Bombenterror zerstörten Städte und Landschaften der Ukraine zeigen zu können. Die Bilder von Ahrweiler unterscheiden sich davon kaum. Und es sind Bilder aus dem eigenen Land, die jeden Tag an anderen Orten so oder ähnlich neu entstehen können. Da wir solche Erfahrungen nicht erst neuerdings machen, sondern schon bei der Hamburger Flutkatastrophe erlebten, als der Innensenator Helmut Schmidt gegen geltende Gesetze, aber durchaus legitim, die Bundeswehr zum Einsatz brachte, um akute Katastrophenhilfe zu leisten, Menschenleben zu retten, ist es nicht überraschend, dass bei erkennbar wachsenden Gefahren dieser Art (Terrorismus, internationale Wirtschaftsverbrechen, menschengemachte Naturkatastrophen) die Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr im Innern ständiges Thema der Sicherheitspolitiker, aber auch der Deutschen Polizeigewerkschaft ist.

 

Ich will hier nicht voreilig den „Bluthund“ Noske heraufbeschwören, aber erinnern sollten wir uns, dass es in Deutschland, noch bevor Bismarck mittels preußischer Kriegspolitik den nationalistischen Staat gründete, der zumindest maßgeblich den ersten Weltkrieg, zweifelsfrei den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brach, zu einer militaristischen Politik kam, die am Ende in den totalen Staat einmündete, in dem der Militarismus das Kulturleben maßgeblich beeinflusste. Reaktionäre und konservative Standardmeinung war es schon 1848, dass gegen Demokraten nur Soldaten helfen. Dass ausgerechnet der Sozialdemokrat Noske die Versuche der Rätebewegung, statt der bürgerlichen Revolution eine sozialistische durchzusetzen, mit Hilfe der Reichswehr im Keim erstickte, schien in der Logik der Geschichte des deutschen Militärs zu liegen. 

 

Es war die Sozialdemokratie, die nach der Logik der Geschichte und ihres damals noch marxistischen Selbstverständnisses eine sozialistische Revolution hätte machen müssen. Stattdessen machte sie die bürgerliche, die dem Bürgertum, das 1848 einen deutschen Nationalstaat gründen wollte, nicht gelungen war. Das erledigt der Krautjunker Bismarck durch angezettelte Kriege. Dass die SPD noch als revolutionäre Partei galt, führte zu dem Irrtum der Feinde der sozialistischen Revolution, das sei eine sozialistische gewesen. Auch wenn Noske diese mit militärischen Kräften verhinderte, haben das die bürgerlichen Kreise nicht gelten lassen. Sie haben seit dem späten 19. Jahrhundert die immer stärker werdende Arbeiterbewegung bekämpft, und deshalb auch die faktisch von der SPD gegründete bürgerliche Weimarer Republik als sozialistischen Staat bekämpft und zerstört.

 

Niemand diskutiert heute ernsthaft, ob es nicht diese Entscheidung war, die den deutschen Faschisten den Weg dazu bereitete, ihr militaristisches Mordsystem als Staatsordnung zu etablieren. Es war der gegen den angeblich von Juden beherrschten (finanz)-kapitalistischen Internationalismus gerichtete Nationalismus, der auf der historischen Grundlage des christlichen Antijudaismus und des ihn ablösenden biologistischen Antisemitismus den Antisozialismus und Antikommunismus zur Ersatzreligion machte. Unter den von Faschisten demagogisch missbrauchten Begriffen  „Nationalsozialismus“ und „Arbeiterpartei“ wurde dann die NSDAP in vermeintlich „freien“, allerdings unter terroristischem Druck von rechts stehenden, Wahlen stärkste Partei. Und die weniger radikalen bürgerlichen Parteien sowie die Wirtschaftsbosse, die Medienmogule, die Kirchen, viele Wissenschaftler und Studierende, zogen es vor, mit Hitler gegen die Gefahr von Links, gegen SPD und KPD, zu koalieren, statt die Gefahr von Rechts durch Koalitionen mit der Linken zu verhindern. 

 

Wer die derzeitigen Tendenzen in Deutschland kritisch beobachtet, wird zugeben müssen, dass auch die gegenwärtige Demokratie durch ähnliche Entwicklungstendenzen, die diesmal in ganz Europa, ja weltweit zu beobachten sind, in wachsendem Ausmaß gefährdet wird.

 

Es ist auch jetzt wieder, anlässlich der zweifellos völkerrechtswidrigen Überfalls der Russischen Föderation auf die Ukraine, und der Unterstützung der Ukraine mit immer schwereren Waffen, eine Diskussion in Gang gekommen, die nahezu unbemerkt dem überwunden geglaubten Militarismus Deutschland neuen Auftrieb ermöglicht. Ein Ende der Gewaltspirale ist nicht erkennbar. Die Grundbedingung der Russen, die schon einmal im geteilten Deutschland zurückgewiesen wurde, weil die Teilung vom Westen gewollt war, nämlich die Ukraine als neutrale Sicherheitszone zwischen NATO und EU anzuerkennen, wird weder von der ukrainischen Regierung noch von den westlichen Unterstützern auch nur andiskutiert. Insofern muss man genau hinsehen und besser zu verstehen versuchen, was es bedeuten kann, dass ein erfahrener Innenminister als der Reformator der Bundeswehr auserkoren wurde.

 

Es gibt viele andere Signale, die auf eine Militarisierung der Gesellschaft. Auf das Ende des Bürgers in Uniform, hindeuten. Ich erinnere an den Einsatz der uniformierten Bundeswehrsoldaten während der Corona-Pandemie, der sogar von einem General kommandiert wurde. Und sehen wir uns die Einsätze des Militärs bei der derzeitigen Erdbebenkatastrophe in der Türkei und in Syrien an, die zwar richtig und legitim sind, aber die Militärs immer intensiver in die Strukturen der diktatorischen Verhältnisse dort integrieren. Das soll nicht heißen, dass es so kommen muss, wie es kommen könnte, dass es aber wichtig ist, frühzeitig die Entwicklungen zu erkennen und ihnen mit allen demokratischen Mitteln entgegenzuwirken.

 

Auch Polizeibedenken belegen, dass hier ein Problem versteckt liegt. Daher zur allgemeinen Information ein Beitrag, der sich auf der aktuellen Seite der Deutschen Polizei Gewerkschaft (DpolG) findet. Wenn man ihn genau liest und mit der sogar von Experten als „überraschend“ qualifizierten  Entscheidung des Hamburgers (und Helmut Schmidt-Nachfolgers) Kanzler Olaf Scholz in Verbindung bringt, einen qualifizierten Innenminister wie Boris Pistorius zum Verteidigungsminister zu ernennen, muss man zugeben, dass die damit verbundenen Möglichkeiten zwar weit über die derzeit noch starken Bedenken und verfassungsrechtlichen Beschränkungen hinausgehen, aber diese Entscheidung angesichts der zu erwartenden Zunahme von Ausnahmezuständen von geradezu visionärer Voraussicht zeugt. 

 

Hans See (den 7.2.2023, erweitert am 13.2.2023)


0. Eine Gutenacht-Geschichte (20.12.2022)

Neulich mal wieder „Markus Lanz“ geguckt! Wie bei allen andern Talksshows: wenig Neues. Seit langen nur zwei Themen: Corona-Impferialismus und Putins Angriffskrieg. Masken, Impfstoff, schwere Waffen. Die Mehrheit derer, die mit Lanz die feste Überzeugung liefern, der freiheitlich- kapitalistische Westen sei gegenüber dem Kriegsverbrecher Putin absolut im Recht, ist durch sorgfältige Selektion der „Gäste“ ebenso absolut gesichert. Einwände des aus dramaturgischen und ideologischen Gründen meist dazu eingeladenen Abweichlers (oder der Abweichlerin) werden großzügig als Irrtümer gewertet, das heißt im Klartext: Leute mit anderer Meinung werden zur Schnecke gemacht.

 

Irgendwann hatte ich mal eine Sendung eingeschaltet, ich weiß gar nicht mehr, ob es eine mit Lanz,

Illner oder Maischberger war, ist ja auch egal, zu der jedenfalls ausschließlich das breite Spektrum

der bundesdeutschen Linken eingeladen worden war? In dieser erninnerte ein Marxist oder eine

Marxistin daran, dass es neben den beiden ewig wiederholten Forderungen „noch mehr Waffen“ und

„noch mehr Diplomatie“ auch noch eine wirkliche, das heißt garantiert wirksame und nachhaltige

Alternative gibt. Neben den derzeit diskutierten Möglichkeiten der Beendigung eines Krieges gibt es

eine dritte, eine historisch erprobte. Wie wäre es denn, sagte eine Stimme der Linkspartei – war es

Janine Wissler? – wie wäre es denn, wenn die russischen Soldaten ihre Waffen nicht länger gegen die

Ukrainer, und die ukrainischen Soldaten ihre Waffen nicht mehr auf die Russen richteten, sondern

die Armeen beider Seiten ihre Waffen den eigenen kriegsführenden Regierungen und Oligarchen auf

die Brust und sie absetzten?

 

Dann könnten sie sofort in Friedensverhandlungen eintreten, sich zusammensetzen und überlegen,

wie man diese kapitalistische Oligarchenmafia, und möglichst nicht nur in der Ukraine und in der

Russischen Föderation, sondern auch in den anderen von Konzerninteressen beherrschten und

gelenkten Staaten ein für allemal entmachtet. Dazu müssten diese einfachen Leute natürlich

ermutigt, organisiert, aufgeklärt werden. Wahrscheinlich würden nicht nur die russische und

ukrainische Bevölkerung bei einer solchen friedenstiftenden Revolution begeistert mitmachen.

Wahrscheinlich auch viele andere weltweit.

 

Aber dann wachte ich auf. Bitter enttäuscht! Schon wieder vor der Glotze eingeschlafen. Ich hatte –

so hätte Markus Lanz es seinem kriegsmüden Publikum erklärt – „nur schlecht geträumt“. Wäre ich

sein Gast gewesen, hätte ich Lanz entgegengehalten, dass es den meisten Menschen auf diesem

Globus sofort einleuchten würde, wenn er ihnen mit entsprechend qualifizierten Gästen erklären

würde, dass Massenaufstände und politische Revolutionen gegen kapitalistische Oligarchen und ihre

Handlanger, die einzigen nachhaltigen Alternativen zu den Kriegen sind, die im Namen westlicher

Werte geführt werden.

 

Selbstverständlich würde Lanz sofort den erfahrenen Weltmann Robin Alexander auf mich loslassen,

der mir – und dem erstaunten Publikum – erklären würde, dass Lenin doch gar keine Revolution, also

auch keinen Waffenstillstand durch Revolution hätte bewerkstelligen können, wenn der Kaiser, seine

Regierung und die kaiserliche deutsche Heeresleitung (Hindenburg und Ludendorf) den Lenin nicht

1917 heimlich aus dem Schweizer Exil durch Deutschland nach Petrograd geschleust hätten. Und

Lenins Frieden hätte schließlich Stalins Diktatur ermöglicht. Ach ja, Stalin. Aber warum haben die USA zuerst mal diesen Diktator, und nicht gleich Hitler unterstützt?

 

Das wären Themen für aufklärerische freiheitlich-demokratische Talkshows. Doch wer weiß das

nicht: Die Freiheit des öffentlich-rechtlichen Fernsehens endet in kapitalistischen Demokratien, wo

die Freiheit der Konzerne und ihrer Hauptaktionäre beginnt. Deshalb wird ja auch nicht darüber geredet, dass dieser Krieg der Krieg zweier kapitalistischer Staaten ist, der zwischen dem

imperialistischen Aggressor Rußland und dem vom imperialistischen freien Westen ermutigten

Provokateur Ukraine geführt wird. Kräftig ermutigt und unterstützt von der NATO, den USA und der

Europäischen Union, weil es eben, wie allenthalben zugegeben wird, ein Stellvertreterkrieg ist, den

die Ukrainer für unsere westlichen Werte, gemeint ist unsere kapitalistische wohlfahrts- und

Ausbeutungsdemokratie, führen.

 

Wir sind offensichtlich so stark und so reich geworden, dass wir es nicht mehr nötig haben, unsere

Werte selbst zu verteidigen. Aber kann das gutgehen? Eine ganze Bevölkerung in ein Söldnerheer zu

verwandeln und für unseren auf massiver Ausbeutung der rohstoffreichen Billiglohnländer der Welt

beruhenden Wohlfahrtskapitalismus in einem Krieg zu schicken, der am Ende – und auch nur

vielleicht – zu gewinnen wäre, wenn sich die NATO bzw. die USA mit ihren Atomwaffenarsenalen in

die Kämpfe einmischen? Und wäre das nicht der Dritte Weltkrieg, den eigentlich keiner gewinnen

kann, den die Menschheit verlieren würde?

 

Anmerkung:

Die beiden kursiv gedruckten Sätze am Ende des fünften Abschnitts hat die Redaktion der Zeitschrift

Ossietzky aus redaktionellen Gründen weggelassen.

 

Abgedruckt im Sonderheft „Krisen und Kampfzonen“ der Zeitschrift „Ossietzky“ (27.8.2022)


Neue Rubrik & Newsletter (26.12.2022)

Liebe Besucher und Besucherinnen, ich begrüße Sie/Euch und wünsche – trotz aller beunruhigenden Entwicklungen - ein gutes, gesundes unnd friedliches Neues Jahr.

 

Zum Jahreswechsel 2022/23 wurde die Startseite umgestaltet, sodass sie es mir ermöglicht,

zeitnah zu aktuellen Ereignissen, Nachrichten, Fragen und Problemen sofort Kurzanalysen,

Kommentare, Buchrezensionen etc, zu publizieren, die mit dem großen Themenkomplex

Wirtschaftsverbrechen zu tun haben. Diese Beiträge finden Sie hier in der Rubrik "Aktuelles".

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Die meisten unserer lokalen, nationalen und globalen Probleme haben entweder unmittelbar oder

mittelbar mit Wirtschaftsverbrechen zu tun. Sie sind meist Ursache, können aber auch Folge von Not

und Elend, Krisen und Kriegen, Flucht und Vertreibung, Fremdenfeindlichkeit und Terrorismus sein.

Wer sich nicht täglich mit Wirtschaft und Wirtschaftspolitik befassen kann, kann die Zusammenhänge

zwischen den verschiedenen Problemkomplexen nur sehr schwer oder überhaupt nicht erkennen.

Aber nur über die Aufklärung von Zusammenhängen werden die großen Weltprobleme wenigstens

insoweit begreiflich, dass man sich eine eigene Meinung zu bilden vermag.

Dass es immer mehr Menschen gibt, die an den vielen, meist undurchschaubaren Ereignissen

verzweifeln und am Ende sogar sogenannten Verschwörungsideologen auf den Leim gehen, die ihnen

die angeblich heile Welt des nationalen Egoismus und eines sogar wieder tötungsbereiten Rassismus

neu herzustellen versprechen, ist doch bekannt.

Mit diesem Portal, das auch die Möglichkeit bietet, mir Kritiken zu meinen Texten oder auch

Korrekturvorschläge zuzuschicken, liefere ich Informationen und Argumente, mit denen man den

nationalistischen, rassistischen und imperialistischen Ideologien überzeugend entgegentreten kann.

Nicht nur die noch relativ kleine Gruppe der „Reichsbürger“, auch viele Bürgerinnen und Bürger, die

wir und die sich selbst als brave und fromme Konservative verstehen, die aber schon den sozialkapitalistischen Liberalismus

und den kapitalfrommen Sozialdemokratismus für Kommunismus halten und entsprechend bekämpfen,

wollen offenkundig hinter die sozialen und politischen Errungenschaften der kapitalistischen

Demokratien zurück, statt entschlossen für deren wirtschaftsdemokratische Weiterentwicklung, also

auch für die Eindämmung des Missbrauchs privater Wirtschaftsmacht, zu kämpfen.

Damit die Basis für diese Diskussionen möglichst breit wird, ohne mich eines der derzeit heftig

umkämpften, so genannten „sozialen“ Medien bedienen zu müssen, werde ich ab sofort bei neuen aktuellen Beiträgen einen Newsletter verschicken, den man mit einem Klick hier kostenlos bestellen und beziehen, aber auch jederzeit wieder abbestellen kann. Da das Problem, mit dem ich mich seit einem halben Jahrhundert wissenschaftlich und politisch befasse und in dieser Website dargestellt wird, ständig wächst, betrachte ich es als meine Pflicht, mich noch einmal - mit nun neuen technischen Möglichkeiten – in den öffentlichen Diskurs einzumischen.

In diesem Sinne freue mich auf einen intensiven Austausch praxisrelevanter Gedanken.

 

Hans See

 

PS: Zum Start der neuen Rubrik finden Sie hier eine erste Kostprobe, eine Gute-Nacht-Geschichte, die ich im August 2022 in einem Sonderheft der Zeitschrift „Ossietzky“ veröffentlichte und die angesichts der Prognosen, dass der Krieg in der Ukraine sich noch sehr lange hinziehen kann, eine Alternative zu den diskutierten Waffenlieferungen mit der Hoffnung auf einem „Siegfrieden“ auf der einen und einem

doch äußerst zweifelhaften Verhandlungsfrieden auf der anderen Seite zur Diskussion stellt.

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