Das System Berlusconi und die Mafia –
Ein Zukunftsmodell Europas?
Hans See
Beginnen wir mit Antonio Giuffre. Er war die Nummer 2 der sizilianischen „Mafia“. Ich benutze diesen schaurig-schönen Begriff, obgleich es keine Verbrecherbande in Italien gibt, die sich Mafia nennt oder von der Polizei so genannt wird. Alle „Familien“ und Organisierte Verbrechersyndikate tragen in den verschiedenen Regionen Italiens ihren eigenen Namen. Ndrangheta heißen sie in Kalabrien, Camorra in Neapel und der Region Campagnia, Cosa Nostra in Sizilien. Dies sind nur die bekanntesten Oberbegriffe, die die Organisationen bestimmter Regionen zusammenfassen. Antonio Giuffre ist Sizilianer, somit der Cosa Nostra zuzuordnen. Da es vor allem in Sizilien immer wieder einmal entschlossene Staatsanwälte gibt, die – weil nicht weisungsgebunden – ungehindert auf Mafiabosse Jagd machen, konnte Giuffre 2002 verhaftet werden. Der tat etwas, was im Zeichen der Omertá, des Schweigegebots dieser Verbrecherkultur, sehr selten vorkommt: Er übte Verrat. Er beschuldigte einzelne Forza-Italia Politiker, also Mitglieder der Partei Berlusconis, enge Kontakte zur Mafia zu pflegen. Ja, er hob sogar Berlusconi und Marcello Dell`Utri, Senator und Vertrauter Berlusconis, besonders hervor.
Beide, Berlusconi und Dell’Utri, sollen Fininvest, eine von Berlusconi 1978 gegründete und inzwischen systemrelevante Holding, mit Hilfe von Mafiageldern solvent gehalten, beide sollen lange Zeit gestückelte Bargeldsummen knapp unterhalb der Meldegrenze bei Banken eingezahlt, also Geldwäsche betrieben haben. Eigentlich eine schwere Straftat. Doch das Gericht glaubte den Beschuldigten, die behaupteten, es seien nur „Geschenke“ gewesen. Experten sind sich ziemlich sicher, dass der italienische Staatschef, der übrigens gerade jetzt ein Zehnpunkteprogramm zur Bekämpfung der Mafia vorgelegt hat, seine steile Karriere zum reichsten Mann Italiens engen Kontakten zu eben dieser Mafia verdankt. Heute will Berlusconi die kriminellen Organisationen, von denen die 'Ndrángheta als die mächtigste gilt, stärker unter Druck setzen. Das Zehn-Punkte-Programm soll vor allem die Wirtschaftskraft der kriminellen Organisationen angreifen. Eine neue Behörde soll das bei der Mafia konfiszierte Vermögen verwalten, soll die Schwarzarbeit in Süditalien besser bekämpfen und Möglichkeiten schaffen, die Vergabe von öffentlichen Aufträgen besser zu kontrollieren. Im Zusammenhang mit diesem Programm hat die Confindustria, der italienische Industrieverband, beschlossen, Mitglieder auszuschließen, die Schutzgeld-Erpressungen nicht anzeigen oder wegen Mafia-Geschäften verurteilt wurden.
Wie Berlusconi selbst so schnell so reich werden konnte, erklären uns spezialisierte Autoren damit, dass Berlusconis Vater Direktor der kleinen Rasini-Bank in Mailand war, die der berüchtigte Bankier Sindona, selbst ein Wirtschaftskrimineller großen Stils, der später im Gefängnis vergiftet wurde, vor Gericht als eine der Banken benannte, die Mafiagelder gewaschen haben. Berlusconi soll in der Frühphase seiner Laufbahn von der Rasini-Bank Kredite zum Kauf von Grundstücken erhalten haben, die seine Kreditsicherheiten weit überstiegen. Marcello Dell’Utri, der zu 9 Jahren Haft verurteilt wurde, dann, obgleich die Staatsanwaltschaft 11 Jahre beantragt hatte, in Berufung ging und kürzlich in Palermo zu 7 Jahren verurteil wurde, war viele Jahre Berlusoncis rechte Hand. Von Dell’Utri weiß man, dass er schon in den 60er Jahren Kontakte zu dem sizilianischen Unternehmer Filippo Rapisarda unterhielt. Rapisarda war für viele Mafiabosse als Verbindungsmann tätig und für Investitionen in den Norden Italiens zuständig. Außerdem hatte Berlusconi neben Dell’Utri in den 70er Jahren den Mafiaboss Vittorio Mangano zwei Jahre lang als Angestellten in seiner Villa Arcore beschäftigt. Berlusconi behauptet später allen Ernstes, dies nicht gewußt zu haben. Damals war er allerdings schon so reich, dass ihm fast alles geglaubt wurde.
Es gibt noch tiefer gehende Verbindungen zwischen Berlusconi und der Mafia. Dazu gehört die Tatsache, dass es in Sizilien (allerdings nicht nur dort) nach wie vor ein Zusammenspiel von Mafia und Politik gibt. Berlusconi hat die stets von den Mafiosi gestützten Christdemokraten in Sizilien politisch beerbt. Diese Erbschaft erklärt sich damit, dass nach den politischen Verwerfungen und dem Niedergang der langen Vorherrschaft der regierenden Christdemokraten im Jahr 1993 ein politisches Vakuum entstanden war, in das Berlusconi hineinstieß. Er nutzte skrupellos seine Chancen als Eigentümer seiner Fernsehsender aus, die er übrigens seinen freundschaftlichen Beziehungen zu Bettino Craxi verdankte. Craxi hatte ihm - gegen geltende Gesetze - erlaubt, mehr als einen privaten Fernsehsender zu betreiben. Der Chef der italienischen Sozialistischen Partei (PSI) und Ministerpräsident, der wegen eines gigantischen Schmiergeldskandals sich vor der Strafjustiz im Ausland in Sicherheit brachte, lebte unter dem Schutz des regierenden Diktators Tunesiens in eigener Villa bis zu seinem Tod im Exil. Er soll nun von Berlusconi postum rehabilitiert werden. Der in die Defensive geratene Staatschef versucht, Craxi als Opfer kommunistischer Richter (rote Roben) darzustellen. Ein Manöver in eigener Sache, wie Berlusconis Kritiker längst bemerkt haben. Auf dem Fundament seines offensichtlich jenseits des geltenden Rechts geschaffenen Reichtums entwickelte der zum Medien-Zar aufgestiegene Bauunternehmer das System Berlusconi. Und dies mit Hilfe der von ihm gegründeten eigenen „charismatischen“ Partei Forza Italia.
Das durch Gesetzesbruch zustande gekommene Medienimperium ermöglichte es ihm in kürzester Zeit, in allen Gegenden Italiens Forza-Clubs aufzubauen. Sizilien, das während der Nachkriegszeit die Domäne der Christdemokraten war, nicht zuletzt, weil sie ein politisch-strategisches Bündnis mit den lokalen Mafiafamilien geschlossen hatten, geriet so nach dem Zerfall der Democrazia Christiana (DC) unter den Einfluss der Partei Berlusconis. Indem die Forza Italia das mafiose Erbe der DC antrat, konnten sich ihre Gründer den mühseligen Weg ersparen, eine eigene parteipolitische Organisation in Sizilien aufzubauen. Das organisierte Verbrechen garantierte der Forza Italia erhebliche Wählerstimmen. Die Mafia brauchte ihrerseits schnell wieder politische Beschützer. Sie selbst modernisierte sich in diesem Prozess. Jürgen Roth spricht von der Mafia Borghese, eine Begriff, der auf die Verbürgerlichung oder Veredelung eines Teiles der Mafiaspitzen hinweist. Diese neue Mafia operiert heute auf Augenhöhe mit den Global Players. Auch in Deutschland. Aber diese verbürgerlichten kriminellen Vereinigungen, die längst Landwirtschaft und Baugewerbe den Traditionalisten überlassen haben und auf allen Finanzmärkten der Welt - als oft angesehene Unternehmer - tätig sind, können ohne den juristischen und politischen Schutz etablierter Parteien und anderer anerkannter Einflussgruppen nur wenig ausrichten. Der Schutz wird ihnen, je weniger Geld sich in den öffentlichen Kassen befindet umso bereitwilliger, von Verantwortlichen der Kommunen aufwärts auf allen Ebenen des Staates und der internationalen Bühne gewährt. Beschützer und Förderer sind Politiker, gewählte und nicht gewählte Repräsentanten der Gesellschaft, Anwaltskanzleien, wissenschaftliche Gutachter und Medienvertreter.
Dass das Organisierte Verbrechen ohne diesen Schutz kaum expandieren könnte, zeigt sich daran, dass nach dem Niedergang der DC innerhalb der sizilianischen Mafia Pläne diskutiert worden sein sollen, eine eigene Partei zu aufzubauen. Als Berlusconi seine Parteigründung bekannt gab, erübrigte sich diese Investition. Hauptverbindungsmann war übrigens der Berlusconi-Vertraute Dell` Utri, der deswegen inzwischen zu einer längeren Haftstrafe verurteilt wurde. Die Öffentlichkeit wird - hoffentlich – beobachten, ob sie auch vollstreckt wird. Dell’ Utri soll langjährige Beziehungen zu hochrangigen Mafiamitgliedern gehabt haben und auch bei der Flucht von gefährdeten Mafiosi hilfreich gewesen sein. Das Bündnis zwischen Forza Italia und der Mafia führte 2001 dazu, dass die Forza-Italia-Koalition alle Direktmandate auf Sizilien gewann.
Eine der wichtigsten Komponenten des Systems Berlusconi ist - neben seinem Medienimperium - die eigene Partei, die inzwischen mit einer anderen fusioniert hat und den Namen Popolo della Libertà (PDL) trägt, also „Volk der Freiheit“. Eine weitere Komponente ist die systematische Entmachtung des Gerichtswesens. Schon in seiner ersten Amtszeit (1994) versuchte er, die Justiz zu seinem Vorteil zu schwächen. Den 3000 Managern, die nach Schmiergeldenthüllungen in Untersuchungshaft saßen, schenkte er ein Gesetz, nach dem verdächtige Wirtschaftsverbrecher nicht in Untersuchungshaft sitzen müssen. Außerdem durften sie sich darüber informieren, ob gegen sie ermittelt wird. Dass Gesetzt wurde allerdings auf Verlangen des Koalitionspartners (der Partei Lega Nord) wieder zurückgezogen. Berlusconi war 2001 in drei Verfahren wegen Bilanzfälschung angeklagt: Im so genannten Medusa-Prozess war er 1997 in erster Instanz zu 16 Monaten Haft verurteilt worden. Es liefen noch Verfahren um die Fußballtransaktionen beim AC Milano und beim SME-Konzern. Im September desselben Jahres, kaum an die Macht gelangt, änderte er das Gesetz so, dass seitdem Bilanzfälschung nur noch als Ordnungswidrigkeit gilt und erst dann verfolgt und mit Bußgeld belegt wird, wenn die gefälschte Summe mehr als 5% des Umsatzes ausmacht. Abgehörte Telefonate, auch wenn sie vom Gericht genehmigt sind, dürfen nicht mehr verwendet werden.
Für Berlusconi persönlich war wichtig, dass die Verjährungsfristen bei Aktiengesellschaften von 15 auf 7 1/2 Jahre und bei nicht-notierten Firmen sogar auf 4 1/2 Jahre verkürzt wurden. Die Ermittlungsrichter durften nun auch erst bei einer Anzeige von Aktionären oder Kreditgebern tätig werden. Hätte diese Regelung vorher gegolten, hätte der gigantische Schmiergeldskandal, der Italiens Parteiensystem Anfang der 90er Jahre zum Einsturz brachte, nicht aufgedeckt werden können. Schon zu Beginn seiner zweiten Amtszeit schaffte Berlusconi kurzerhand die Erbschaftssteuer ab (18.10.2001) und setzte eine Amnestie für Schwarzgeldschieber durch, die Geld ins Ausland transferiert hatten. Es konnten somit Schwarzgelder wieder eingeführt werden - straffrei und anonym. Die Besitzer müssen statt bis zu 50 Prozent nur 1,8 Prozent Steuern zahlen. Ein Weg, kriminelles Geld zu legalisieren. Da Berlusconi trotz größten Widerstands den Europäischen Haftbefehl nicht verhindern konnte, der sich auch gegen ihn hätten richten können, als in Spanien gegen ihn ermittelt wurde, hat Italien als einziges Land seine Anwendung abgelehnt. Der Euro-Haftbefehl sollte nach Berlusconi Auffassung wirtschaftskriminelle Straftatbestände wie Geldwäsche, Korruption und Betrug nicht enthalten. Im Lauf der Jahre entwickelte Berlusconi ein politisch-ökonomisches System, das es ihm ermöglichte, Italien in weiten Bereichen wie ein Privatunternehmen zu führen. Eine Art Wahlmonarchie. Begünstig wurde dieser Prozess, der ähnlich auch in anderen Ländern verlief und noch nicht abgeschlossen ist, durch das plötzliche Ende des Kalten Krieges. Es führte zum Zusammenbruch der westlichen Parteiensysteme und ihrer auf immensen Schulden aufgebauten Sozialstaatspolitik, die dem Wettbewerb der Systeme zu verdanken war. Im Zuge der nun folgenden neoliberalen Periode der Globalisierung (Erweiterung der NATO und der Europäischen Union, Verlagerung und Veränderung der Feindbilder) bildeten sich in vielen europäischen Staaten und anderen Teilen der Welt Variationen eines Staatsverständnisses heraus, das auch Kommunen und Staaten als „Unternehmen“ betrachtet und nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen durchzurationalisieren und/oder zu privatisieren versucht.
Vom System Berlusconi kann man deshalb sprechen, weil dieses kapitalfeudalistische Staatsverständnis bei diesem Staatsunternehmer am schärfsten ausgeprägt und es ihm gelungen ist, es in Italien in einem hohen Maß Wirklichkeit werden zu lassen, so dass es auch in anderen Staaten innerhalb und außerhalb der EU Nachahmer findet. Allerdings haben andere Staaten auch andere Voraussetzungen. Daher sind diese Entwicklungen in den EU-Staaten und anderswo nicht völlig identisch und auch nicht zeitgleich zu beobachten. Aber die objektiven Grundlagen kapitalistischer Produktionsverhältnisse und die beschleunigte Internationalisierung und Deregulierung der Märkte ermöglicht es heute den globalen Kapitalstrategen nahezu überall, wo sozialstaatliche Demokratien ansatzweise vorhanden waren, ähnliche Rechts- bzw. Unrechtsverhältnisse zu installieren, um sie in kapitalfeudalistische Demokratien zu transformieren.
Strukturen und Mentalitäten, die man als System Berlusconi beschreiben kann, haben sich seit Ende des Kalten Krieges in nahezu allen Teilen der Welt etablieren können. Dies freilich gegen wachsenden Widerstand. Leider verfügt die breiter werdende Protestbewegung der alten und neuen sozialen Bewegungen noch immer nicht über eine kritische Theorie der kriminellen Ökonomie, die es ihr erlauben würde, Wirtschaftskriminalität und Organisierte Kriminalität, die beiden Hauptbereiche krimineller Ökonomie, und die von den Akteuren des Untergrundkapitalismus beider Bereiche praktizierte Korruption, in ihre Kritik und ihre Gegenstrategien einzubeziehen. Sie ist aber nicht nur - wegen des Fehlens einer übergreifenden theoretischen Erklärung – ideologisch, sondern auch organisatorisch zu zersplittert, als dass sie sich gegen die Inhaber der politischen und ökonomischen Macht mit demokratischen Mitteln durchsetzen könnten. Ein System Berlusconi können viele nicht erkennen, weil zum Beispiel die marxistische Kritik der politischen Ökonomie oder auch der Linkskeynesianismus in ihren Systemanalysen noch keinen systematischen Ort für die kriminelle Seite der Wirtschaft gefunden haben. Die Kategorie der informellen Ökonomie, die da und dort das Problem zu fassen scheint, kann die Widersprüche zwischen legaler und illegaler Ausbeutung nicht erklären. Sie erschwert sogar die überfällige Weiterentwicklung der klassischen marxistischen Kapitalismuskritik durch Einbeziehung der weit über die legalisierte Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft und Naturressourcen hinausgehenden räuberischen Ausbeutung von Individuen, Gesellschaften durch vom System selbst kriminalisierten Wirtschafts- bzw. Bereicherungsmethoden.
Wer nach Belegen für das Vorhandensein eines Systems Berlusconi sucht, findet sie in den sich häufenden Wirtschaftsverbrechen, von denen die Medien (die bürgerlichen absichtlich und mit Berufung auf Transparency International) nur die Bestechlichkeit korrupter Politiker und Beamter skandalisieren, also nicht die aktive Bestechung, die von Unternehmen mit Milliardensummen aus illegalen Kriegskassen (erinnert sei an Siemens) betrieben wird. Warum wird die Bestechlichkeit skandalisiert? Weil dies rechtspopulistisch agierenden und offen oder latent nationalistisch und rassistisch argumentierenden Demagogen zu immer größeren Wahlerfolgen verhilft. Belege für die Existenz des Systems finden sich auch in der rapide fortschreitenden Verschmelzung von Organisierter Kriminalität und „seriöser“ Wirtschaft, die durch die Ungleichzeitigkeit und Ungleichheit der Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse als objektiv notwendig erscheint. Sichtbar wird das System auch in der erhöhten Austauschfrequenz des Personals der Führungsetagen von Wirtschaft und Politik und in der manipulativen Pseudovielfalt der Medien und Meinungen, die den Prozess der Konzentration der Kapitale und der Monopolisierung der Märkte hinter einem raffinierten Medien- und Meinungspluralismus verschleiert. Dieser Pluralismus endet, wenn jemand versucht, die nahezu grenzenlose unternehmerische Ausbeutungs- und Umweltzerstörungsfreiheit zu thematisieren und etwa fordert, dass dieser Variante der Eigentumsfreiheit klar definierte demokratische und strafrechtliche Grenzen gesetzt werden müssen.
Das noch im Werden begriffene bzw. ausbaufähige System Berlusconi stellt sich dar als Prozess der Refeudalisierung. Der Marxismus-Leninismus hat dieses System - vielleicht etwas verfrüht, auf jeden Fall allzu dogmatisch – während des Kalten Krieges als staatsmonopolistischer Kapitalismus bezeichnet. Undogmatisch und ergänzt durch eine Theorie der kriminellen Ökonomie könnte man den staatsmonopolistischen Kapitalismus etwas präziser und von Dogmen befreit als Kapitalfeudalismus beschreiben. In ihm wird einerseits der Unterschied von legal und illegal immer wichtiger, andererseits verwischen sich diese Unterschiede im Prozess der konkreten Kapitalverwertung und werden verwischt, weil die Beachtung dieser Differenz für die Entwicklung demokratisch-sozialistischer Formen des Wirtschaftens von zentraler, von konstitutiver Bedeutung ist. Die Verwischung gelingt mit Hilfe pseudokritischer (an christliche Vorherrschaft erinnernde) moralische Kategorien wie Gier, Sünde und Sittenwidrigkeit und durch die damit zusammenhängende Fokussierung der Kapitalismuskritik auf die Bestechlichkeit von Politikern und Beamten und den Lobbyismus, der zwar die Lobbyisten des Kapitals treffen soll, aber durch Verzicht auf die Unterscheidung von legalem und illegalem Lobbyismus am Ende auch die moralisierenden Lobbyismuskritiker treffen wird, weil sie ja auch Lobbyisten, wenn auch für die sozial Schwachen und Armen oder die bedrohte Umwelt sind.
Die Refeudalisierung besteht in der systematischen (mit Überschuldung der öffentlichen Hände begründeten) Privatisierung öffentlichen Eigentums und hoheitlicher Aufgaben. Diese Politik löst vordergründig die privaten Kapitalverwertungsprobleme, nicht zuletzt, weil sie systematisch die Löhne drückt und die schwer erkämpften Standards der sozialstaatlichen Demokratie zugunsten der Investoren zerstört. Sie untergräbt, wo vorhanden, die inner- und überbetriebliche Mitbestimmung. Sie schafft damit Wirtschaftsunternehmen, die an absolutistische Kleinstaaten erinnern, die aber wegen ihres „Internationalismus“ über den Staaten (auch über der EU) stehen und deren Manager daher wie Fürsten am ständig beschworenen Volkswillen vorbeiregieren und in aller Welt – in der Regel mit Unterstützung der Geheimdienste – Wirtschaftskriege führen können.
Nichts anderes wollte wahrscheinlich Ex-Bundespräsident Horst Köhler dem Volk erklären und es dafür gewinnen, als er auf dem Rückflug von seinem Besuch in Afghanistan gegenüber einem Rundfunksender erklärte, das Volk beginne zu begreifen, dass wir Deutsche künftig auch Wirtschaftskriege führen müssten, um unseren Wohlstand zu sichern. So deutlich sagte er es nicht, aber so nur konnte das, was er sagte, verstanden werden. Bundeskanzlerin Merkel und ihr Vize, Außenminister Westerwelle, sahen darin den Verrat des größten Betriebsgeheimnisses der Deutschland AG und ließen Köhler, den Ex-Chef eines der Hauptquartiere dieser Wirtschaftskriege, des Internationalen Währungsfonds, fallen. Daher sein plötzlicher Rücktritt, begleitet von den Krokodilstränen, die ihn einst - weil er als IWF-Chef aufgrund seiner damaligen Praxis (zum Beispiel im Zeichen der Argentinienkrise) die Garantie für Verschwiegenheit in Sachen Wirtschaftskrieg zu bieten schien - auf den Schild gehoben hatten.
Es gibt viele andere Belege für das Vorhandensein eines Systems Berlusconi, das ich – objektiviert - auch als Kapitalfeudalismus bezeichne. So wird von vielen Medien ein irrsinniger Reichenkult betrieben und ohne Bezug zu diesen Fehlentwicklungen wird – unkritisch, meist eher bewundernd - von „Geldadel“ gesprochen. Die öffentlich als fortschrittliche Triebkraft hochstilisierte wirtschaftliche Konkurrenz (Marktwirtschaft) muten sich die Monopolisten gar nicht mehr zu, sondern treffen nach Möglichkeit Kartellabsprachen oder kaufen ihre Widersacher auf. Durch friedliche wie durch feindliche Übernahmen schreitet der von Marx prognostizierte Konzentrationsprozess des Kapitals unaufhaltsam voran.
Unter dieser Form des Kampfes gegen und der Ausschaltung von Konkurrenz leiden – weil die Folgen nicht durch demokratische Kontrolle dieser gigantischen Kapitalmacht verhindert werden - vor allem die Arbeitnehmer. Sie werden – samt ihrer Gewerkschaften - entweder zur Akzeptanz menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen und Löhne erpresst oder arbeitslos. Arbeitslose und prekarisierte Arbeitskräfte wie durch Outsourcing entstandene Klein- und Mittelunternehmer erinnern an Leibeigene, an Untertanen. Diese Art von Konkurrenz treibt Menschen in krankmachende Isolation, die von Zynikern der Vernunft als Individualisierung gefeiert wird. Sie stört und zerstört Sozialverhalten (Solidarität, Nächstenliebe, Loyalität), treibt Konsumenten und Schuldner in die Fangarme der Banken und sonstigen Kapitalverwertungsgesellschaften, Marktmächte und Marktmanipulateure. Den Individualisierten bieten Wirtschaft und Politik als Auswege aus der Krise vor allem Niedriglöhne, prekäre Arbeitsverhältnisse, Auswanderung, und obendrein ein ständig wachsendes Angebot an oft völlig überflüssigen oder für viele unerschwinglichen Waren und Dienstleistungen, die Programme des so genannten Unterschichtsfernsehens inbegriffen, deren Inhalte von in ihrer Selbstentfremdung heimisch gewordenen Kulturschaffenden, also so genannten Mittel- und Oberschichtsmitgliedern produziert wird. Die besser verdienenden „Eliten“ betreiben nicht nur mit ihren auf den Markt geworfenen Waren und Dienstleistungen schamlose Selbstbedienung, sie schrecken auch vor den primitivsten Formen krimineller Bereicherung nicht mehr zurück. Banker und Makler, Berater und Verkäufer (die längst eins sind) werden zu Raubrittern, Betrügern, Dieben. Jean Ziegler spricht vom Bankenbanditismus.
Die ehrlichen unter den Unternehmern der „formal economy“, die es sicher noch gibt, machen sich mitschuldig, zumindest verdächtig, weil sie in ihrer großen Mehrzahl dazu schweigen oder versuchen, als Verursacher der Missstände auf so genannte „Sozialschmarotzer“, „Sozialromantiker“ in Parteien und Gewerkschaften sowie auf den kleptokratischen Staat, auf die Regulierer und „ein paar schwarze Schafe“ verantwortlich zu machen. Zu alledem passt, dass im Juni 2010 in New York eine von der UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime mit Sitz in Wien) erstellte Studie vorgestellt wurde, die zu dem Ergebnis kam, dass Organisierte Kriminalität (the informal economy) eine der größten wirtschaftlichen und am stärksten bewaffneten Mächte der Welt geworden sei, die Waffen und Gewalt, aber auch „Geld und Schmiergeld“ benutze, „um Wahlen, Politiker und Macht zu kaufen, auch das Militär“. Dies sagte der für die Studie verantwortliche Behördenchef Antonio Maria Costa in einer Rede vor dem Rat für Auswärtige Beziehungen. Der Bericht, der im Juni 2010 unter dem Titel „Globalisierung des Verbrechens“ erschien, ist enttäuschend. Berlusconi und andere Politiker, die sich nachweislich im Milieu mafioser Geschäftsleute bewegen und mit diesen geschäftliche und persönliche Beziehungen pflegen, kommen in diesem Bericht nicht vor. Es wird dort nur die Feststellung getroffen, dass die kriminellen Geschäfte heutzutage den gesamten Planeten umspannen, wodurch indirekt bestätigt wird, was ich hier mit der Skizzierung des Systems Berlusconi ins Bewusstsein zu heben versucht habe. Costa wird in den Medien sogar mit den Worten zitiert „Unerlaubte Ware wird auf einem Kontinent besorgt, über einen anderen transportiert, in einem dritten vertrieben.“ Das ist richtig und verweist auf die Beteiligung der „seriösen“ Wirtschaft, oder wie UNODC es „wertneutral“ ausdrückt, der „formal economy“.
Auch klagt der Berichterstatter zu Recht darüber, dass das globale Phänomen des organisierten Verbrechens zu sehr ignoriert werde. Dabei sei es ein Problem „für alle, besonders arme Länder, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen“. Doch kritikwürdig finde ich, dass in diesem Bericht die Rolle der zahlreichen Berlusconis in Europa und der Welt, auch wenn sie nicht selbst Parteien gründen, Regierungsämter anstreben oder innehaben, sondern sich Parteien, Regierungsmitglieder, Parlamentarier kaufen, völlig ausgeklammert werden.
In der nächsten Ausgabe von BIG (sie erscheint Anfang Oktober) werde ich diesen über 300 Seiten umfassenden UNODC-Bericht einer gründlichen unter wirtschaftskriminologischen und kriminalökonomischen Aspekten verfassten Kritik unterziehen. Der Bericht wird nicht als Buch veröffentlicht. Er kann in englischer Sprache im Internet nachgelesen werden.
Auswahl aus der verwendeten Literatur:
Stefano Benni, Andrea Camilleri, Umberto Eco: Berlusconis Italien – Italien gegen Berlusconi. Verlag Klaus Wagenbach, 2002, ISBN 978-3-8031-2450-0.
Bülow, Andreas von, Im Namen des Staates – CIA und die kriminellen Machenschaften der Geheimdienste, Piper Verlag, München/Zürich 2. Auflage 1998.
Caponetto, Antonio, Die Antimafia, Wie dem organisierten Verbrechen der Prozess gemacht werden kann, München 1993.
Grasmück, Damian: Die Forza Italia Silvio Berlusconis: Geburt, Entwicklung, Regierungstätigkeit und Strukturen einer charismatischen Partei, 2005, Verlag Peter Lang, Frankfurt am Main, ISBN 3-631-53839-1
Grasse, Alexander: Italienische Verhältnisse 2004. Kontinuität und Wandel im politischen System der „zweiten Republik“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2004, bpb, Bonn.
Feustel, Dirk: One Man Show: Silvio Berlusconi und die Medien, 2007, Tectum Verlag, ISBN 978-3-8288-9446-4.
Lernoux, Penny, In Banks we Trsut – Bankers and their close Associates; The CIA, the Mafia, Truck Traders, Dictators, Politicians and the Vatican, Ancor Press/Doubledy, Garden City, New York 1984.
Renner, Jens: Der Fall Berlusconi. Rechte Politik und Mediendiktatur, 2001, Verlag Werkstatt, ISBN 978-3-89533-116-9.
Roth, Jürgen, Mafialland Deutschland, Frankfurt am Main, Eichborn Verlag 2008.
Roth, Jürgen, Gangsterwirtschaft – Wie uns die organisierte Kriminalität aufkauft, Frankfurt am Main, Eichborn Verlag 2010.
Rusconi, Gian Enrico: Die Mediendemokratie und ihre Grenzen – am Beispiel von Berlusconis Italien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 2004, bpb, Bonn.
Udo Gümpel/ Ferrucio Pinotti: Berlusconi Zampano. Die Karriere eines genialen Trickspielers, Riemann, München 2006, ISBN 978-3-570-50071-2.
Saviano, Roberto, Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra, Hanser Verlag 2006.
See, Hans, Die Durchdringung der legalen Wirtschaft durch die Organisierte Kriminalität: Schriftliche Fassung eines Vortrags, der auf der Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung gehalten wurde. Sie fand am 11. und 12. Februar 1993 zusammen mit den italienischen Linksdemokraten (Marco Piantini, Pino Arlacci, Paolo Bocedi) in Berlin statt. Die Beiträge wurden im Juli 1993 in der Dokumentation: „Strategien und Gegenstrategien: Organisierte Kriminalität in Deutschland und Italien“ (vom Berliner Büro der FES) veröffentlicht.
See. Hans, Wirtschaftsverbrechen und innere Sicherheit. In: Gewerkschaftlichen Monatshefte (4/1994)
See, Hans, Wirtschaftskriminalität, organisierte Kriminalität und Korruption – Die inneren Feinde von Sozialstaat und Demokratie. Der Aufsatz entstand aus einem Vortrag, 1996 gehalten auf einer Fachtagung der Katholischen Akademie Trier. Er erschien in der Reihe Forum Politik unter Nummer 15. Hg. von Günter Gehl im Auftrag der Akademie unter dem Titel: Bedroht die Organisierte Kriminalität die Demokratien in Europa? Weimar 1990.
See, Hans, Wirtschaftsverbrechen im Zeitalter der Globalisierung, in: Informationes Theologiae Europae – Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie, 12. Jahrgang 2003, Herausgegeben von Ulrich Nembach (Göttingen) in Verbindung mit Heinrich Rusterholz (Bern) und Paul M. Zulehner (Wien), Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main.
Hans See, Kriminelle Weltökonomie gegen sozialstaatliche Demokratie, in: „Zeitschrift Marxistische Erneuerung Z.“ verfasst und in Nr. 43, September 2000 (S.33-43).
Hans See, Streitgespräch mit Peter von Blomberg (Transparency International), in: Schriftenreihe der Hochschule Speyer – Band 185 – Korruption und Korruptionsbekämpfung. Beiträge auf dem 8. Speyerer Demokratietagung vom 27. und 28. Oktober 2005 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, hrsg. Von Hans Herbert von Arnim, Berlin 2007.
Sterling, Claire, Die Mafia – Der Griff nach der Weltmacht, Scherz Verlag 1990.
Stille, Alexander: Citizen Berlusconi., 2006, München: Verlag C. H. Beck, ISBN 3-406-52955-0 (Rezension in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 6).
UNODC: Globalization of Crime. Unter diesen Stichworten ist der Bericht über google im Internet zu finden.
Wallisch, Stefan: Aufstieg und Fall der Telekratie. Silvio Berlusconi, Romano Prodi und die Politik im Fernsehzeitalter, 1997, Böhlau Verlag, Wien, ISBN 978-3-205-98568-6.
Ziegler, Jean: Der Haß auf den Westen – Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren. München 2008.
Ziegler. Jean: Die Schweiz wäscht weißer – Die Finanzdrehscheibe des internationalen Verbrechens, München 1990.
Hinweis:
Dieser Aufsatz erschien zuerst in der von der anderen Bürger- und Menschenrechtsorganisation Business Crime Control (BCC) herausgegebenen Vierteljahreszeitschrift BIG Business Crime (Nr.3, 2010) und wurde danach noch einmal aktualisiert und erweitert.
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