Malte Krüger in

Die Vermessung der Elite.

Warum Deutschlands Vorzeigedenker die Kapitalismuskrise nicht erklären können

Kapitalismus und Korruption, eine untrennbare Symbiose  (Seite 46 ff.)

 

Unabhängig davon, welche Position sich als richtig erweist: Dass die Politik die Finanztransaktionsteuer bisher nicht auf den Weg gebracht hat, liegt auch an der Panikmache von Henkel und seinesgleichen. Das macht ihn zu einem zynischen Klientelredner, weil er nur verkürzte und einseitige Parolen zur Finanztransaktionssteuer bisher hinausposaunt hat.

 

Henkel redet darum im Interesse eines Systems, bei dem Korruption nicht weit ist, weil es auf den Finanzmärkten kaum wirksame Kontrolle gibt weder politisch noch ethisch. Doch selbst bei dieser Frage verzichtet Henkel nicht auf die Einseitigkeit des Lobbyisten, jenseits jeder ciceronischen Aufrichtigkeit. Wo findet mehr Korruption statt? In der freien Wirtschaft oder in der Politik? Für Henkel natürlich in der Politik.

 

Er unterstreicht bei Menschen bei Maischberger seine These mit einem zunächst berechtigten Vorwurf: Die Gesellschaft hat der Politik Gesetze zu verdanken, die geradezu zum Verbrechen wie der Wirtschaftskriminalität einladen. (Siehe die Ausgabe der Reihe Menschen bei Maischberger vom 05.10.2010 mit dem Titel Reiche immer reicher)

 

„Bis zum Jahre 1999 waren Bestechungsgelder deutscher Firmen im Ausland sogar noch steuerlich absetzungsfähig“, betont Henkel. Er sagt jedoch nicht, dass derartige Gesetze auch infolge des Einflusses der Wirtschaft auf den Staat  zustande kommen. Vielmehr glaubt Henkel, dass es inzwischen in der Wirtschaft zu einem Einstellungswechsel gekommen ist:  „Was ich auch einmal zum Ausdruck bringen möchte, ist, dass die moralischen Standards sich in der Realwirtschaft auf jeden Fall – und da kenne ich mich gut aus – eher verbessert  als verschlechtert haben in den letzten Jahren. Es wird nicht mehr bestochen. Und wenn das passiert, dann geht der ganze Laden den Bach runter und wird in Haftung genommen. Der Firmenchef muss sogar in den Knast.“

 

Henkel liefert mal wieder nur Behauptungen. Wie so oft ersetzt der Hinweis auf seinen Status als Eingeweihter das ausbleibende Faktenargument. Darüber hinaus lobt er in einer Phoenix Runde von 2007 die Selbstreinigungskräfte der Wirtschaft.

Die Politik dagegen besitzt so etwas nicht: „Nach meiner persönlichen Erfahrung ist die Korruption immer da am schlimmsten, wenn sie sich an der Schnittstelle zwischen Politik und Wirtschaft abspielt und das sind auch die schlimmsten Fälle. Natürlich gibt es die Korruption  innerhalb der Wirtschaft. Da schadet sie der Wirtschaft. Und da ist die Wirtschaft ja selbst schuld, wenn sie das zulässt. Das wird sich schon regeln. Aber an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik regelt sich das nicht ohne Gesetze.“ (Siehe die Ausgabe der Reihe Phoenix Runde vom 03.07.2007)

 

Für Henkel ist die Korruption in der Wirtschaft nur die Tat einzelner schwarzer Schafe. Deshalb spricht er dort nur von Korruptionsunfällen und es genügen angeblich Appelle, um diesen Unfälle vorzubeugen. Warum aber ausgerechnet  die Politik korrupter sein soll, verschweigt Henkel. Gemäß seinem Status als Lobbyist erklärt er auch mit keinem Satz, dass der Geist des Kapitalismus zwangsläufig Korruption und organisierte Wirtschaftskriminalität hervorbringen muss. 

 

Der erimitierte Politikprofessor Hans See, Gründer der Anti-Korruptionsplattform Business Crime Control, deckt diesen Zusammenhang in seinem Buch „Kapital-Verbrechen“ auf: Für See hat sich der Kapitalismus im Wettbewerb mit dem Sozialismus als das stärkere System erwiesen. Nicht nur wegen der nicht zu schlagenden Produktivität, sondern auch wegen der vielen Freiheiten: zum Beispiel die Wahlfreiheit und Gewerbefreiheit, die Unternehmer-, Presse-, Rede-, Konsum- und Reisefreiheit. All diese Freiheiten haben die Menschen aus Osteuropa lieber gewollt als den Sozialismus. Allerdings hat nach See die Ware Freiheit auch ihren Preis: Kapitalismus bedeutet wegen der Freiheit zur wirtschaftlichen Betätigung auch Konkurrenz. Dort stehen sich dann nach Ansicht Sees nicht Kapital und Arbeit in feindlichen Lagern gegenüber, sondern gegensätzliche Kapitalgruppen. (See, Hans: Kapital-Verbrechen. Die Verwirtschaftung der Moral, S. 1 ff.)

 

Dabei ist dieser wirtschaftliche Konkurrenzkampf definiert durch das Gesetz des Stärkeren, erst recht seitdem die wirtschaftliche Handlungsfreiheit durch die jahrelange Deregulierung zugenommen hat. Diese Konkurrenz zwischen den gegensätzlichen Kapitalgruppen zerstört die Schwachen. Damit sind nicht nur die Leistungsunfähigen und Kreditunwürdigen gemeint. Dazu zählen auch alle, „die zu viel des Guten tun, die Löhne nach sozialen Gesichtspunkten zahlen, Sozialleistungen gewähren, die zwar menschlich notwendig, ökonomisch aber tödlich sind. Zu ihnen zählt, wer Behinderte einstellt, keine Überstunden verlangt, maximalen Gesundheitsschutz bietet, die Umwelt nicht belastet, sondern die Kosten für eine ökologisch verantwortbare Produktion auf seine Produkte umlegt, statt sie, wie die Konkurrenz, in die Flüsse und Meere zu kippen.“(Ebenda, S. 321)

 

Nach See kämpfen folglich und in Abwandlung zu dem angesprochenen Robert Kurz soziales gegen asoziales Kapital, humanes gegen inhumanes Kapital oder moralisches gegen kriminelles Kapital. Und das Letztere gewinnt in der Regel. Das Resultat dieser Kapitalkonkurrenz ist die Wirtschaftskriminalität.  

Das beweisen die diversen Skandale der Lebensmittelindustrie, das systematische Doping im Sport, die Industriespionage, die organisierte Steuerhinterziehung und kreative Buchführung, Mobbing am Arbeitsplatz, der Frauenhandel für den Sextourismus oder die Abrechnungsschummeleien der Ärzte. Diese Kapitalkonkurrenz führt jedoch bei vielen zum Verlust ihrer individuellen Freiheit. Das hehre Ziel der sozialen Gerechtigkeit wird durch Korruption in sein Gegenteil verkehrt, weil Wirtschaftsverbrechen soziale Ungerechtigkeit und die Ausschaltung fairen Wettbewerbs bewirken.

 

In diesem Konkurrenzkampf ist der „Ehrliche der Dumme“, wie der ehemalige Mister Tagesthemen Ulrich Wickert einst geschrieben hat. (Wickert, Ulrich: Der Ehrliche ist der Dumme. Über den Verlust der Werte, München 2005)

 

 Dazu hat selbst Henkel einmal eingestanden, wie schwierig es für ihn als BDI-Vorsitzender war, unter der deutschen Unternehmerschaft einen Anti-Korruptionsleitfaden durchzusetzen: „Das war in der Tat nicht so einfach“, gesteht er in der besagten Phoenix Runde ein. „Wir hatten ja damals 34 oder 35 Verbände, und es gab Firmen – die kann ich jetzt nicht nennen – und es gab auch Verbände, die sagten, das können wir nicht machen. Denn unsere Konkurrenz macht das auch zum Beispiel im Ausland.  Wir würden Arbeitsplätze dadurch verlieren. Wir würden Geschäftschancen dadurch einbüßen.“ (Siehe die Ausgabe der Reihe Phoenix Runde vom 03.07.2007)

 

Deshalb hat der BDI (der Bundesverband der Deutschen Industrie) nach Henkels Ansicht auch die Verantwortung, für Waffengleichheit zu sorgen. Doch in Henkels Augen bedeuten diese Symptome noch nicht, dass Korruption das kapitalistische System definiert. Es gibt vielmehr eine Lösung für das Problem: Dort wo die Privatisierung am meisten fortgeschritten ist, kommt es zu relativ wenig Korruption, „weil es die Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik nicht mehr gibt“. Ganz anders Hans See: Da List, Täuschung und Betrug immer häufiger den Maßstab setzen, und Fleiß und Arbeit sich immer weniger auszahlen, gilt die Formel: je asozialer, desto erfolgreicher. Egal ob Staat oder Privat. Die Folge ist die Verwirtschaftung der Moral. (See, Hans: Kapital-Verbrechen. Die Verwirtschaftung der Moral, S. 334)

 

Kennzeichen dieser Verwirtschaftung sind die modernen Finanzmärkte, die der Rechts- und Staatswissenschaftler Wolfgang Hetzer für einen außergewöhnlich erfolgreichen Sammelpunkt von organisierter Kriminalität hält: Insbesondere Banker und Spekulanten haben mit ihren Geschäftsmodellen Scheinwerte geschaffen und häufig trotz hoher Verluste Belohnungen kassieren dürfen. Auf diese Weise ist es ihnen jedoch gelungen, die Zusammenhänge zwischen Arbeit, Leistung und Erfolg „in einer jahrelangen hemmungslosen und selbstsüchtigen Bereicherungsorgie zu zerstören“. Das wiederum bedroht die Grundlage der rechtsstaatlichen Kultur einer bürgerlichen Gesellschaft. Hetzer geht so weit und bezeichnet diese Geschäftspraxis als „die lukrativste und längste Geiselnahme der neueren Wirtschafts- und Kriminalgeschichte“. (Hetzer, Wolfgang: Finanzmafia. Wie Banker und Banditen ohne Strafen davonkommen, Frankfurt/Main, Westend Verlag, S. 12)

 

Die Banker sind derart mächtig, und sie können jederzeit den verantwortlichen Politikern vorhalten: Wenn unsere Bank zusammenkracht, dann fliegt Eurer Bundesregierung das gesamte Wirtschaftssystem um die Ohren. Wenn Ihr das nicht wollt, dann gibt uns gefälligst Euer Geld. Umso bedenklicher, dass dieses Geschäftsmodell, nach der viele Banker vorgehen, als Straftatbestand noch nicht vor Gericht stand. Vor Gericht stellen kann man nur natürliche Personen.  

 

Vor diesem Hintergrund der Systemanalysen von See und auch von Hetzer wirkt Henkels Gerede von schwarzen Schafen nur erbärmlich. Erst recht da Hetzer das System der Finanzmafia plausibel als Gefahr für die Demokratie betrachtet: Für ihn ist das objektive Kriterium für das persönliche Einkommen immer weniger erkennbar. Der Wert von Arbeit verfällt immer mehr. Es breitet sich immer mehr das Gefühl aus, dass Einsatz und Qualifikationen sich nicht lohnen werden. Bestimmte Cliquen können sich willkürlich aus dem Gemeingut wie dem Steueraufkommen bedienen und in einem Umfang, wie er nicht vorstellbar ist. Deshalb stellen sich dann laut Hetzer grundsätzliche Fragen der Legitimation: Immer mehr Menschen könnten sich dann fragen: Warum  soll ich überhaupt noch wählen gehen bei einem System, das derartige Anschläge der  Finanzmafia auf das Allgemeingut zulässt? (Siehe das Interview mit Wolfgang Hetzer in der Sendung Thadeusz vom RBB, gesendet am 29.03.2011).