Hans See   über

Hans Jürgen Krysmanski

0,1 Prozent – Das Imperium der Milliardäre

Westend Verlag    Frankfurt 2012      288 Seiten 19,99 €

 

Ausgangspunkt

Es versteht sich hoffentlich von selbst, dass ich kapitalismuskritische Bücher vor allem (wenn auch nicht nur) unter dem Aspekt rezensiere, ob - und wenn ja, wie - ihre Autoren die Verbrechen der Wirtschaft bzw. Wirtschaftsbosse (Unternehmern, Anteilseignern, Managern, Aufsichtsratsmitgliedern etc.) berücksichtigen. Hans Jürgen Krysmanskis neuestes Werk interessierte mich besonders, weil ich dachte, es sei eines über Milliardäre. Das war mein Ausgangspunkt. Es ist ja auch irgendwie ein Buch über Milliardäre. Aber doch auch wieder nicht. Und da ich dieses Buch dennoch jedem empfehle, der sich für den Imperialismus der Superreichen interessiert, ist diese Rezension etwas länger als üblich ausgefallen. Krysmanskis Buch bietet beste Gelegenheiten, einige Grundsatzfragen zumindest anzudiskutieren, die er durch zahlreiche eigene Hinweise und Zitate aufwirft, aber - leider - nicht weiter verfolgt.

Die Frage, wie derart unfassbare Reichtümer in so wenige private Hände geraten konnten, wird in den meisten deutschsprachigen Büchern über Reiche nicht thematisiert. Auch Krysmanski hält sich vornehm zurück. Hier muss man entweder auf das 24. Kapitel des Marx’schen Hauptwerks Das Kapital (Bd.1) zurückgreifen, in dem die „so genannte ursprüngliche Akkumulation“ des Kapitals in England als eine gigantische blutige Räuberei geschildert wird. Oder man kramt vergessene, nur noch als Titel in Erinnerung gebliebene Bücher wie Steward H. Holbrooks 1954 in deutscher Sprache erschienenes Werk „Die Cäsaren der Wirtschaft“ (München) hervor. Das es viele auch aktuelle englischsprachige Bücher über die Verbrechen der Wirtschaft gibt, die nicht ins Deutsche überteagen werden, sei nur am Rande angemerkt. Empfehlen kann ich hier das Buch „Inside Job – The Looting of America’s Savings an Loans“ von Stephen Pizzo, Mary Fricker und Paul Muolo (New York u.a. 1989)

In seinem 2012 erschienenen Buch hat der renommierte marxistische Soziologe Hans Jürgen Krysmanski, ausgewiesene Klassenanalytiker, Macht-, Elite-, Konflikt- und Friedensforscher die winzige Minderheit von „0,1 Prozent“ der Superreichen zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung erhoben. Er setzt damit seine früheren Forschungsarbeiten fort, spitzt sie aber auf die „oberen Zehntausend“, wie man sie im analogen Zeitalter noch nannte - zu. Jedenfalls knüpft er mit diesem Buch thematisch an seine 2010 erstmals, inzwischen in 4. Auflage erschienenen „Geschichte der amerikanischen Reichtumsforschung“ an. Der damalige Titel: „Hirten  Wölfe – Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen“.

 Wer erwartet, in diesem Buch mehr über Bill Gates, Warren Buffet und anderer Pop-Stars unter den Megareichen zu erfahren als SPIEGEL, STERN oder FORBES-Magazin ihm bisher verrieten, wird enttäuscht. Es geht Krysmanski nämlich nicht wirklich um die Milliardäre, sondern - wie ja auch der Untertitel klar ansagt - um das „Imperium der Milliardäre“. Man ahnt natürlich, dass dieses Imperium nicht ein klar umrissenes, irgendwo und irgendwie von anderen vergleichbaren Imperien (sagen wir der Nichtregierungsorganisationen – Jean Ziegler nennt sie „die Widersacher“ der neuen Herrscher der Welt) abgrenzbares Machtgebilde handeln kann, sondern um ein soziologisches Konstrukt. Obgleich für platte Empirie ein Schattenreich, handelt es sich bei diesem Imperium, wie Krysmanski zeigt, durchaus um handfeste, auch differenzierten empirischen Studien zugängliche Eigentumsverhältnisse.

 

Richistan ist überall

Der materielle Reichtum dieser Superreichen liegt nicht auf Sparkassen, Volksbanken und in Schatztruhen herum. Er besteht aus einklagbaren Rechtstiteln auf Grund und Boden, Grundstücke und Urwälder, Plantagen, realwirtschaftliche Produktionsstätten, Banken, Versicherungen, Hedgefonds, Krankenhausgesellschaften, Kurbetriebe, Reisegesellschaften, Luftflotten, Schiffsflotten, Eisenbahngesellschaften, Autobahnen, Kommunikations- und Medienimperien und sonstigen Vermögenswerten. Zumindest hohen Anteilen daran – und dies weltweit gestreut. Darüber hinaus aber auch aus Kunstsammlungen, Fußballvereinen und anderen lukrativen Werbeträgern. Kurz: Diesen Reichen und Superreichen gehören entscheidende Anteile der gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsmittel unseres blauen Planten. Wenn wundert es also, dass sogar einzelne Clans ganze Staaten und Verfassungssysteme zum Einsturz oder zum Aufstieg verhelfen können?

Dazu kommt, dass die Privatisierung öffentlicher Güter von den Kapitalstrategen weltweit vorangetrieben wird. Zur Verwaltung dieser Imperien sind den Superreichen Heerscharen von Managern, Prokuristen, Rechtsanwälte, Forscher, Berater, Ghostwriter, Werkschützer, Leibwächter, Bereitschaften und andere Lakaien zu Diensten. Notfalls auch staatliche Streitkräfte. Denn die Unternehmen, Villen, Fuhrparks, Yachten und die zum Erhalt und zum Ausbau ihrer Macht und Herrschaft notwendige Infrastruktur, dazu als höchste Rechtsgüter „Ordnung“ und „Sicherheit“ erfordert eine quasi-hörige Dienstklasse, eine Art Klerus der neoliberalen Weltanschauung.

Nach klassischem bürgerlichem Verständnis verbürgen nach wie vor die Nationalstaaten „Ordnung und Sicherheit“, „Law and Order“. Insbesondere sind sie letztinstanzliche Garanten des Rechts auf Eigentum und unternehmerischer Betätigungsfreiheit. Aber die Informations- und Wissenssysteme, die das Eigentumsrecht durch institutionalisierte und staatlich garantierte Rechtssicherheit und Vertragstransparenz im Namen einer als repräsentativ ausgegebenen Demokratie garantieren, sind spätestens mit dem Ende der Ost-West-Systemkonkurrenz in beiden Machtsphären zerfallen und befinden sich in einen als Globalisierung umschriebenen, aber nach wie vor als Fortsetzung des alten Imperialismus unter neuen Rahmenbedingungen und mit neuen wissenschaftlich-technischen (weiterhin auch militärischen) und sozialpsychologischen, den neuesten Digitaltechniken zu verdankenden Mitteln erkennbaren Umstrukturierungsprozess.

Aber die Nationalstaaten verschwanden nicht, wovon auch Krysmanski - sich auf den peruanischen Ökonomen Hernando de Soto berufend - erst einmal ausgeht. Doch dann denkt er über diese Annahme hinaus, indem er den bis dahin gültigen Wissensbegriff weiter fasst als den, der den jeweiligen Systemgegnern des Kalten Krieges genügte. Denn wenn der Kapitalismus nun endgültig (bei aller Vielfalt seiner Ausprägungen und Unterschiedlichkeit der Entwicklungsstufen seiner Elemente (Arbeiterklasse, Klassenbewusstsein, Organisationsgrad, religiöse und sonstige kulturelle Überformungen, Wahl- und Regierungssysteme) sich als globale Ökonomie durchgesetzt hat, geht es um das richtige Verständnis des nun entstandenen oder noch im Entstehen begriffenen neuen Weltsystems, der neuen, noch zu schaffenden Weltordnung.

Hier wäre interessant gewesen, was Krysmanski zur zentralen These des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher (ich werde eine Rezension seines Buches „EGO – Das Spiel des Lebens“ in der nächsten BIG-Ausgabe veröffentlichen) gesagt hätte, die er - weil das Buch später erschien - noch nicht kennen konnte. Schirrmacher geht nämlich davon aus, dass es die spieltheoretischen Modelle des Kalten Krieges sind, die maßgeblich zum Sieg des Kapitalismus über den Staatssozialismus beitrugen und – dies sein entscheidender Gedanke - nach Ende des Ost-West-Konflikts vor allem von den Hedgefonds benutzt und genutzt werden, eine Art kalten Wirtschaftskrieg gegen den guten alten Kapitalismus zu führen.

Kampf um die Netzwerkhoheit

Krysmanski sagt, dass „auch die unspektakulärste Expropriation der Epropriateure…nur möglich (ist) durch die Aneignung aller Daten über den Gang der Dinge und Verhältnisse in der Welt.“(.S.256f.) Theoretisch - ja partiell auch praktisch - sind demnach alle wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten und Ressourcen für eine auf die „Totalität der Probleme“ und „der Problemlösungen“ ausgerichtete globalwirtschaftliche Planung vorhanden, aber die erforderliche „Interkonnektivität“ (also das notwendige Maß der Vernetzung) ist aus Krysmanskis Sicht - „wegen Profitkonkurrenz“ (S.260) - nicht gegeben. Vielmehr tobt derzeit ein Kampf um die Kontrolle über die Netze. Hier wäre ein systematischer Ansatzpunkt, die Rolle des nationalen Rechts (auch des Wirtschaftsstrafrechts) und der Verbindlichkeit internationaler Abmachungen (Verträge etc.) bei der Entwicklung des neuen Reichtums zu untersuchen.

In diesem Kampf um Netze und Informationsmonopole spielen die Nationalstaaten noch immer eine zentrale Rolle. Aber sie werden, wo deren Regierungen ihre Kontrollmacht dazu „missbrauchen“, Regulierung im Sinne sozialstaatlicher Umverteilungspolitik (man denke an den Kampf gegen den grenzüberschreitenden Steuerbetrug) durchzusetzen, auch gegeneinander ausgespielt. (S.118) Wir wissen nicht, über wie viele nationale Identitäten (Personalausweise) jeder Einzelne dieser megareichen Minderheit verfügt. Aber was Krysmanski über die Verteilung und Bewegung der Milliardäre „im Raum“, „dem Planeten als Ganzes“ und an Reaktionen auf nationalstaatliche Politiken herausgefunden hat, verweist unübersehbar auf den - vom Standpunkt sozialstaatlich-demokratischer Verteilungspolitik aus gesehen – reaktionären Charakter des Imperiums der Milliardäre, mögen einzelne caritative oder politische Aktivitäten auch noch so progressive Züge zeigen.

In Zeiten des Umbruchs, in denen kapitalismuskritische Friedens- und Demokratiebewegungen trotz - oder wegen - des überwältigenden Einflusses der Reichen und Superreichen auf Parteien, Medien, Gesellschaft weltweit Widerstand organisieren und dort, wo einigermaßen freie Wahlen garantiert sind, jederzeit „falsche Mehrheiten“ zustande kommen, also völlig legal radikale Gegner dieser Reichen an die Schalthebel der Macht gelangen können, sind diesen „Vermögenden“ die Staatsgarantien nicht mehr zuverlässig genug. Das erklärt den globalen Ausbau der Überwachsungssysteme und den damit einhergehenden, die Spekulanten beflügelnden Aufschwung der Sicherheitsindustrie. Andererseits hat die „Demokratisierung“ des Internet, dem viele Superreiche ihren Reichtum verdanken, auch zur Stärkung ihrer Widersacher geführt, hat Bewegungen wie Attac, Weltsozialforen und Occupy hervorgebracht, deren Veränderungspotentiale von Kapitalismuskritikern oft weit überschätzt werden und Enttäuschungen hervorrufen.

Wie viel Veränderung Krysmanski diesen oppositionellen Strömungen zutraut, ob sie einer ernst zu nehmenden revolutionären Gegenmacht werden könnten, lässt er klugerweise offen. Er versucht jedoch die Frage zu beantworten, was denn diese winzige, aber umso mächtigere Minderheit mit ihrem einmal aufgehäuften Vermögen eigentlich macht. Hier bietet er den oppositionellen Strömungen interessante Übersichten über Zusammenhänge und Einblicke, die geeignet sind, die müde gewordene Kapitalismuskritik wieder zu radikalisieren. Zwar versucht er – wie andere Reichtumsforscher – auch die Größenordnungen dieser Vermögen zu erfassen. Aber von der üblichen Reichenkritik an zu hohen Gehältern, Boni und Renditen macht er kaum eigenen Gebrauch. Auch die „Gier“ wird von ihm nicht wirklich bemüht.

Ebenso lässt er die immer wieder laut werdenden Argumente, dass diese Leute ihr Geld doch in Kapital verwandeln, also in Arbeitsplätze investieren, dass sie Kultur- und Wissenschaftsstiftungen, Think Tanks gründen, Wohlfahrtsveranstaltungen finanzieren und auch ansonsten allerlei Gutes tun, weitgehend außen vor oder zeigt, dass selbst ihre nichtkapitalistischen Aktivitäten der Ausübung und Sicherung ihrer Macht und Herrschaft dienen. Dass Milliardäre das Kapital überwinden, wird zwar von ihm angedacht, aber nicht ernsthaft geglaubt oder vertreten. Mehrfach hebt Krysmanski hervor, dass diese Minderheit derart abgehoben herrscht, dass sie - anders als die übrigen Reichen - selbst bei schwersten Krisen ruhig schlafen kann. Denn ihre Vermögen sind in einer Breite gestreut und in einer Tiefe abgesichert, dass sie letztendlich nichts zu verlieren und auch sonst nichts zu befürchten hat, es sei den, die ganze Erde würde explodieren.

Das Buch handelt also durchaus konkret von den – wie sie im analogen Zeitalter noch genannt wurden – „oberen Zehntausend“, also von „denen da oben“. Doch wird es nur an wenigen Stellen – so über den russischen Oligarchen Jewtuschenkow – persönlich (S.150ff). Ansonsten bilden die Superreichen – so undefinierbar sie auch sind – dennoch eher eine soziologische Größe. Auch Bill Gates, George Soros und all jene, die man zu kennen glaubt, weil sie in der Öffentlichkeit immer wieder erwähnt oder zitiert werden, sind nicht wirklich Thema. Das Buch handelt nicht einmal von einzelnen Wirtschaftsimperien wie Microsoft, EADS, AIG, Sistema, die Bechtel Corporation, General Motors, Großbanken, Versicherungen, Hedgefonds, Siemens und Konsorten, deren Namen irgendwo in Listen zu finden sind. Gegenstand sind „einzig und allein die Superreichen“, ein diffuses Kollektiv, das sich von den Reichen durch ihre totale Privatheit unterscheidet und aus „dieser dunklen Zone heraus“, die „Imperium der Milliardäre“ genannt wird, ihre „unkontrollierte Macht“ (trotz wachsenden Widerstands noch immer) weithin ungestört ausüben kann.

Diese „dunkle Zone“ kann natürlich nur indirekt, eher durch soziologische Imagination als mit den üblichen Zähl-, Meß- und Gewichtungstechniken empirischer Sozialforschung erschlossen werden. Daher Krysmanskis vor dem Hintergrund seiner Lebensleistung möglichen, seine Kritiker schon im Vorfeld entwaffnenden Bekenntnis zur „subjektiven Souveränität“. In Anlehnung an Robert Franks gleichnamiges Buch über die Megareichen nennt Krysmanski deshalb dieses Imperium auch „Richistan“.

Richistan und seine Räuber

Krysmanski versichert uns und belegt es auch: „Richistan. Dieses Schattenreich der Milliardäre ist kein Mysterium“(S.83) Aber er gesteht freimütig, dass es „vieles“ gibt, „was wir darüber noch nicht wissen“. Und da sich, wie er bedauert, „die Sozialwissenschaftler über die hier anzuwendenden Theorien und Forschungsmethoden nicht einig“ sind, gestattet er sich „eine experimentierende, tastende und spielerische Annäherung an dieses Phänomen“. Er verrät aber auch, dass es noch einen weiteren Grund gibt, seine Kritik nicht mit dem Gestus eines Revolutionärs vorzutragen. Ihm sei schon bei Annäherung an das Thema klar geworden, sagt er, welche „Selbstverteidigungsenergien in diesem Macht- und Herrschaftssystem stecken“, die er angesichts einiger konkreter Zahlen in Blogs und Foren zu spüren bekommen habe. Das Buch - so spannend, informativ und konkret es über weite Teile auch ist – bleibt daher insgesamt doch wissenschaftlich abstrakt.

Zwar sagt der Autor unmissverständlich, dass man angesichts der Folgen der neoliberalen Globalisierung nicht mehr „um eine klare, brutale Fassung des Themas Macht und Herrschaft herumkommen“ wird, aber die im Text immer wieder fallenden Namen von Milliardären und Konzernen, Think Tanks und anderen Institutionen, die im Dienst der Superreichen stehen, bekannte wie unbekannte, werden nicht - schon gar nicht „brutal“ - mit den doch einen ganz wesentlichen Teil der Geschichte des Kapitalismus ausmachenden Wirtschaftsverbrechen in Verbindung gebracht. Nicht einmal indirekt. Krysmanski liefert eingangs eine Liste jener Kapital-Titanen des späten 19. und 20. Jahrhunderts, denen es gelang, unter Missachtung aller humanistischen und demokratischen Errungenschaften, auch der bürgerlichen Verfassungsnormen und der Einzelgesetze gigantische Wirtschaftsimperien aufzubauen. Und die meisten dieser Namen stehen bis heute für den verwirklichten amerikanischen Traum, der dem Tellerwäscher suggeriert: Auch Du kannst Milliardär werden.

Wer aber - wie ich - schon 1954 das in Deutschland erschienene Buch von Steward H. Holbrook „Cäsaren der Wirtschaft - Die Entstehung der amerikanischen Gelddynastien“ gelesen hat, wird überrascht feststellen, dass Krysmanski – wenn er schon darauf verzichtet, die mörderische Entstehung der amerikanischen Kapitalgesellschaften selbst nachzuerzählen – nicht wenigstens auf dieses frühe Standardwerk über die neuen Superreichen, die die USA zu jener Weltmacht werden ließen, die sie - zumindest militärisch - noch immer ist, verweist. Holbrook hat in diesem Buch die Ambivalenz von Wirtschaftsverbrechen in einer Weise analysiert, die eigentlich kein Reichtumsforscher nach ihm ignorieren konnte.

Es hätte Krysmanskis mehrfachen Hinweisen auf räuberische Ausbeutungspraktiken auf jeden Fall empirische Rückendeckung geben können. Darüber hinaus hätte es die Möglichkeit geboten, den historischen Veränderungsprozess zwischen 1954 und 2012 – den Krysmanski durchaus ernst nimmt, zu konkretisieren. Denn in Holbrooks Buch - das aus dem analogen Zeitalter stammt - haben die Tycoons noch ein Gesicht, eine Lebensgeschichte. Sie haben Ehefrauen, Geliebte und Kinder, Freunde und Feinde. Das Buch ist mit Potraitsfotografien sowie Fotos von Wohnpalästen (Außen- und Innenansichten und Bankhäusern, ja sogar mit Bildern Streikender und mit boshaften Karikaturen über die Superreichen ausgestattet.

Holbrook zeigt auch deren allseits bewunderte Leistungen. Aber er schreckte nicht vor wirklich „brutalen“ Äußerungen zurück: „Noch die besten von ihnen“, schreibt er einleitend, „arbeiteten bis etwa 1900 mit Methoden, vor denen heute (Anfang der 1950er Jahre, also mitten in der McCarthy-Ära - HS) auch der gewissenloseste Manager zurückschrecken würde, während damals die Amerikaner für solche Manöver keinen härteren Ausdruck hatten als ‚smart’.“ Noch brutaler: „Und überhaupt hätte wohl gegenwärtig fast jeder unserer Helden bei gerichtlicher Würdigung seiner Unternehmungen gut und gerne hundert Jahre Gefängnis zu erwarten.“(S.8f) Fünfzehn Jahre nach Holbrooks Buch, dessen deutsche Ausgabe den amerikanischen Pioniergeist in das niedergeworfene Deutschland exportieren sollte, im Jahr der ausklingenden Studentenrevolte 1969 und der beginnenden Reformpolitik der Regierung Brandt / Scheel, erschien in der BRD das Buch „Die Reichen und die Superreichen – Macht und Allmacht des Geldes“ von Ferdinand Lundberg.

Lundberg hatte schon 1937 ein Buch über Amerikas 60 reichsten Familien (America’s sixty Families) verfasst, dass starken Einfluss auf die US-Sozialpolitik ausübte. Diese wird in Deutschland unter „New Deal” abgehakt. Das Buch beginnt wie folgt: “The United States of America is owned and controlled by a hierarchy that at its core consists of the 60 richest families of the country, to which at most 90 families of somewhat lesser wealth may be included. These families are the center of the modern industrial oligarchy that controls the United States. They function discretely under a de jure democratic form of government, behind which a de facto government of absolutistic and plutocratic nature has existed since the Civil War.” Ein Standardwerk, das nach Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg vom Nazi-Chef der Deutschen Arbeitsfront, Robert Lay, für seine antisemitische Propaganda (die reichen Juden der USA haben den Zweiten Weltkrieg angezettelt) missbraucht und wahrscheinlich deshalb nach 1945 in Deutschland keine Chance hatte, wenigstens zur Kenntnis genommen zu werden.

Doch Lundberg, ein Holbrook auf höherer Stufenleiter, wird von Krysmanski zitiert. Leider nicht, um dessen Erklärung der Dialektik von „Reichtum und Kriminalität“ zu reflektieren oder zu rezipieren, sondern um Reichtum und Superreichtum voneinander abzugrenzen (S12). Dass er das Dritte Kapitel des Lundberg-Buchs unerwähnt lässt, in dem dieser - eine seltene wissenschaftliche Heldentat - den Zusammenhang von „Kriminalität und Reichtum“ thematisiert, hat mich doch sehr überrascht. Lundberg hat nämlich mit seinem Buch über die 60 reichsten Familien der USA auch die Weichen für den Durchbruch einer damals revolutionären Kriminalsoziologie gestellt, mit der der Beginn einer seriösen kapitalismus- bzw. konzernkritischen Wirtschaftskriminologie datiert. Sie wird in Lundbergs von Krysmanski erwähnten Buch - im Kontext der Konzernkritik der späten 60er Jahre - mit Bezug auf den berühmten Wirtschaftskriminologen und Kriminalsoziologen  Edwin H. Sutherland ausführlich referiert. Und da Lundberg mit Sutherlands Forschungsergebnissen die Rolle der Kriminalität der Konzerne besonders hervorhebt. ist nicht nachvollziehbar, weshalb Krysmanski, der ja die Konzernpolitik genau beobachtet, diesen Ansatz völlig ignoriert.

Diese Ausblendung ist umso unverständlicher, als Krysmanski sehr wohl weiß, sogar in seinem Buch immer wieder andeutet, dass es auch heute „Mafiamilliardäre“ gibt und dass „Raub“ (S.59) nicht nur in der von Marx beschriebenen Periode der englischen „so genannten ursprünglichen Akkumulation“ (Marx) vorkam, sondern weltweit allgegenwärtig ist. Da der Gesetzesbruch im Wirtschaftsleben nicht nur eine der Grundformen der Kapitalbeschaffung, von Start- und Aufstockungskapital ist, sondern auch im gesamten Verwertungsprozess von der Rohstoff- und Energieversorgung über alle Produktionsstufen bis zum kriminellen Recycling und der kriminellen Entsorgung von Abfallstoffen (Marx spricht von Exkrementen) ein durch keine andere wirtschaftliche Leistung kompensierbarer Wettbewerbsvorteil ist, wäre wenigstens eine Erklärung zu erwarten gewesen, weshalb (insbesondere sich als marxistisch verstehende) Kapitalismuskritik glaubt, der theoretischen Auseinandersetzung mit der kriminellen Seite der Ökonomie aus dem Wege gehen zu dürfen.

Lundberg geht in diesem Punkt sogar weiter als Holbrook. Denn er wagt es, seine Leserinnen und Leser in die Theorie des Kriminalsoziologen und Wirtschaftskriminologen Sutherland (1883-1950) einzuführen, dessen Standardwerk „White Collar Crime“ in der McCarthy-Ära in den USA nur gekürzt erscheinen durfte, erstmals 1983 ungekürzt erschien, aber bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Auch Krysmanski – obgleich er in fast jedem Abschnitt seines Buches dazu einschlägige Andeutungen macht oder zitiert - thematisiert die kriminalisierte Seite der Ökonomie nicht. Er untersucht nicht, welche Bedeutung dem kriminell beschafften, verwerteten und abgesicherten Kapital in einer im rechtsstaatlichen, sozialstaatlich-demokratischen Gewand auftretenden Wirtschaftsweise zukommt. Auch nicht ob, und wenn ja, wie Wirtschaftsverbrechen und Wirtschaftskrisen zusammenhängen. Allenfalls wird auf die Wechselwirkung von Wirtschafts- und Demokratiekrisen hingewiesen.

Die Kritik der kriminellen Ökonomie ist heimatlos 

Wie die meisten namhaften marxistischen Sozialwissenschaftler hat auch Krysmanski offensichtlich ein Problem damit, dass die Kritik der politischen Ökonomie des Marxismus bis heute in der von Marx entwickelten Systematik keinen Ort für die räuberische, die kriminalisierte Seite der Ausbeutung, die inzwischen ja auch der Kapitalismus verbietet, gefunden hat. Dabei wird doch erfahrungsgemäß jegliche Form der sozialstaatlichen Wirtschaftsregulierung vom New Deal und der „sozialen Marktwirtschaft“ bis hin zur rigiden kommunistischen Planwirtschaft (die als Stufen der Regulierung zu verstehen sind und klassenpolitische Auseinandersetzung mit der Rolle der Gesetzgebung und der Rechtsprechung unausweichlich machen), von den Ideologen des Neoliberalismus als Hauptgrund für die Entstehung von Wirtschaftskriminalität genannt. Wirtschaftsverbrechen (einschließlich Steuerkriminalität) werden zu Freiheitskämpfen hochstilisiert und staatkritisch moralisiert und minimalisiert.

Schon Marx und Engels haben der Steuerungskapazität staatlicher Gesetze und ihrer Wirkung auf die Moral- und Marktgesetze nicht die notwendige Beachtung geschenkt, haben sie in Vorworte und Anmerkungen verbannt. Marx hat Leserinnen und Leser des Kapital mehrfach auf spätere Ausführungen zu diesem Problem vertröstet, zu deren Umsetzung aber seine Lebenszeit zu kurz gewesen ist. So hat er sich auf das „Naturwüchsige“ der kapitalistischen Wirtschaftsweise konzentriert, um es so deutlich wie möglich herausarbeiten und seiner fundamentalen Kritik unterziehen zu können. Nimmt man diese frühe Kapitalismuskritik so, wie sie sich in den Köpfen der Theoretiker der Arbeiterbewegung zu deren Schaden verfestigt hat, ist es durchaus richtig, dass der Kapitalismus auch ohne Wirtschaftskriminelle eine Gefahr für den Sozialstaat, ja selbst für die kapitalistischen Demokratien ist.

Daher glauben ja so viele Linke, das Problem der kriminellen Ökonomie sei eines des Systems und des Systemerhalts und es geschieht, dass in einem renommierten lexikalischen Projekt des Marxismus den Band „K“ ohne das von mir ausgearbeitete Stichwort „Kriminalität“ erscheint, dafür immerhin mit dem Stichwort „Kriminalroman“ aufwartet. Doch Krysmanski, und daher betrachte ich ihn - trotz der von mir kritisierten Theoriedefizite - als einen Freund und Verbündeten, geht einen Schritt weiter, obgleich er daraus (noch?) nicht die notwendigen Konsequenzen zieht, wenn er schreibt: „Die Davos-Klasse ist trotz der guten Manieren und Maßanzüge ihrer Mitglieder räuberisch.“(S. 101) Dass er nirgends auch nur andeutet, der ganze Kapitalismus sei kriminell, daher erübrige sich dieses Thema (so der angesehene DDR-Historiker Eberhard Czichon zu mir im Jahr 2000), macht mir Hoffnung. Was mich jedoch überrascht hat, dass er glaubt betonen zu müssen, längst nicht alle der so genannten Offshore-Vermögen seien mit „illegaler Steuerhinterziehung“ (S.82) zu erklären.

Natürlich nicht: Schon vor fast zwei Jahrzehnten haben Banken, sogar die öffentlich-rechtliche Helaba, in Zeitungs-Anzeigen den Reichen und Superreichen ihre Hilfe angeboten, ihr Geld „legal“ (und dennoch am Fiskus vorbei) in die Schweiz oder nach Liechtenstein zu schaffen. Und in diesem - wenn man von der hier hervorgehobenen Schwachstelle und einigen anderen absieht - äußerst lehrreichen, anregenden und auch für die Diskussion des Problems der kriminellen Ökonomie sehr wichtigen Buch - finden sich ja genügend Hinweise, wie dieses „Imperium der Milliardäre“ die öffentliche Meinung, die Wissenschaften, Medien, Parteien, Wahlen, Gesetzgebung und Rechtsprechung, Regierungen, ja auch die gesamte Staatsbürokratie einschließlich der Justiz. beeinflussen. Dieses Problem ist aus meiner Sicht der harte wahre Kern des Buches.

Krysmanski zeigt, auch ohne es ausdrücklich zu thematisieren, dass, wer über eine derart imperiale Privatmacht wie die Superreichen verfügt, theoretisch und praktisch gar keine Verbrechen begehen muss. Er hat die Freiheit, die Superspezialisten ganzer Anwaltskanzleien, die Think Tanks, ehrgeizige Universitätsprofessoren, die engen Connections zur Politik, zur Staatsbürokratie als Teile der Projektplanung einzusetzen und die möglicherweise sozial- und umweltschädlichen Praktiken zu umgehen oder vorher legalisieren zu lassen. Viele Verbrechen finden daher heute auf gesetzlicher Grundlage oder im rechtsfreien (deregulierten) Räumen statt. Diese fast schon zur Binsenweisheit heruntergekommene Erkenntnis wäre allein schon Grund genug, sich als Linker, zumal als marxistischer Sozialwissenschaftler, nicht nur am Rande mit der Kritik der kriminellen Ökonomie zu befassen. Und sei es nur, um herauszufinden, mit welchen Methoden heute Gesetze für Reiche und Superreiche gemacht, abgeschafft (dereguliert) oder von höchsten Gerichten zugunsten der großen Bereicherungspraktiker und Demokratie-Unterwanderer ausgelegt werden. Wer dies für überflüssig hält, kann auch alle übrigen Versuche, eine bessere Welt zu schaffen oder die „Schöpfung“ zu bewahren, unterlassen.