Hans See  über

Frank Schirrmacher

EGO – Das Spiel des Lebens

Karl Blessing Verlag

München 2013

350 Seiten / Preis € 19.99

 

Kritik der Kritik

Frank Schirrmacher ist ein herausragender deutscher Journalist – das sagen zumindest einige seiner nicht minder bekannten Kollegen, zum Beispiel Jakob Augstein. Aber es finden sich auch extrem gegenteilige Meinungen. So hat sich Bettina Röhl in der „Wirtschaftswoche“ einen totalen Verriss erlaubt, aber nicht nur des Buches EGO, sondern auch des Autors Schirrmacher selbst. Sie lässt kein gutes Haar an diesem „egoistischen und egozentrischen“, extrem Geltungsbedürftigen Streber nach Ruhm und Ehre. Doch solche selbstgerechten Urteile schlagen meist auf ihre Richter selbst zurück. Es gibt weit bessere Rezensionen, genannt seien nur die von Cornelius Tittel (Die Welt) und Gregor Dotzauer (Tagesspiegel).

Man findet diese Kritiken leicht im Internet und sie könnten meine Rezension überflüssig machen, wenn sie herausgearbeitet hätten, was an diesem Buch Schirrmachers wirklich problematisch ist. Es ist nahezu alles richtig und berechtigt, was seine Kritiker geschrieben haben. Und ich denke auch, dass Schirrmacher einen Teil seiner beeindruckenden Erfolgsgeschichte als Autor nur seiner Stellung als Herausgeber einer herausragenden bürgerlichen Zeitung, der FAZ, zu verdanken hat. Er ist aber sicher einer der klügsten Köpfe, die hinter dieser Zeitung stecken. Daher nehme ich an, dass das Buch, hätte es ein unbekannter Durchschnittsjournalist geschrieben, sehr wahrscheinlich vor Schirrmachers Richterstuhl oder einem Buchkritiker seiner Zeitung kein so mildes Urteil erfahren hätte, wie es zum Beispiel Augstein (in Spiegel-Online) über sein „EGO“ gesprochen hat. Und Bettina Röhl hätte sicher nicht derart hart auf Buch und Autor eingedroschen, wenn Schirrmacher es unter irgendeinem Pseudonym veröffentlicht und sie nicht gewusst hätte, wer dahinter steckt.

Ich erwähne diese Kritiken, um mir Wiederholungen zu ersparen. Wer will, kann im Internet nachlesen, was sich an diesem Buch und seinem Autor aussetzen lässt. Die Kritiken verdienen größten Respekt, denn sie zeugen von ungewöhnlich gründlicher Lektüre. Heute eine Rarität. Sie verweisen auf viele problematische Details und liefern eine ganze Palette gut nachvollziehbarer Bewertungen. Sie haben aber keine Antwort darauf gegeben, worum es Schirrmacher inhaltlich wirklich geht. So konnte man ihn einfach als Kapitalismuskritiker missverstehen, oder einen, der nach links gerückt sei. Das aber gerade ist er nicht. Um was es ihm wirklich geht, ist doch schon im Klappentext erkennbar, den ich hier gekürzt und mit verdeutlichenden eigenen Ergänzungen wiedergebe: Es geht ihm um die Rettung des realwirtschaftlichen Kapitalismus vor dem spekulativen Finanzkapitalismus.

Rechter Antikapitalismus

Ein alter Hut, den sich bisher nur extrem rechte Köpfe aufzusetzen wagten, Demagogen, die bewusst den Eindruck zu erwecken versuchten, sie seien Sozialisten, also Kapitalismusgegner, die aber den Klassenkampf in einen Rassenkampf umwandelten. Bei genauerem Hinsehen haben die Bürgerlichen lange vor den Nazis schon raffiniert zwischen schaffendem (christlichem) und raffendem (jüdischem) Kapital unterschieden und nur das jüdische bekämpft. Die Folgen sind bekannt. Das christlich-konservative Bürgertum verteidigte den tüchtigen selbständigen verantwortungsbewussten Bauern, Handwerker und Industriellen (und den christlichen Arbeiter) vor jenen, die den schnell wachsenden Kreditbedarf der Realkapitalisten mittels Wucherzinsen ausbeuteten und die Kleinmärkte mittels großer Kaufhäuser und Handelsketten ruinierten. Vor die Entscheidung gestellt, den Klassenkampf der Arbeiterbewegung gegen das Kapital schlechthin zu unterstützen oder den Rassenkampf der deutschen Faschisten gegen das jüdische Kapital, verhalfen die Bürgerlichen Hitler zur Macht.

Irgendeiner der Kritiker Schirrmachers hat sich wohl daran erinnert, als er schrieb, es gäbe ja auch einen rechten Antikapitalismus. Aber Schirrmacher gehört – auch wenn deren Spuren in seinem Vokabular und in seiner Denkweise leicht zu finden sind – nicht zu dieser pseudosozialistischen Denkschule. Er sieht nämlich nicht mehr „das deutsche Volk“ bzw. „die deutsche Nation“ und ihr ehrlich erarbeitetes Eigentum durch Wucherjuden und Kommunisten bedroht, sondern die Souveränitätsrechte der europäischen sozialkapitalistischen Demokratien durch uns alle. Dass er erkennbar den guten alten Sozialkapitalismus vor dem – wie ich ihn nenne – „Defizitsozialismus“ verteidigt, einem Staat, der zulässt, dass Gewinne privat eingestrichen werden dürfen, Verluste aber sozialisiert, das heißt auf den Steuerzahler abgewälzt werden, ist für ihn „im Kern ein Angriff auf die Idee der Demokratie“. Aufgepasst! Auf die „Idee“ der Demokratie.

Darüber, was für Schirrmacher Demokratie heißt, findet sich nichts Brauchbares. Die „Idee“ der Demokratie war immer, dass Bevölkerungen, also die Mehrheit der Bürger (später auch Bürgerinnen), die Regierungen, die sie selbst gewählt haben, vor allem deren Steuer- und Ausgabenpolitik, kontrollieren dürfen, ohne, wenn sie kontrollieren wollten, außer Landes fliehen, von der Polizei niedergeknüppelt, in den Knast oder in die Psychiatrie zu müssen. Das gilt schon für die antiken Sklavenhalterdemokratien und ist auch der Kerngedanke der bürgerlichen oder freiheitlichen Demokratie. Sie sollte man deutlicher als kapitalistische Demokratie bezeichnen, und wo sie durch die Kämpfe der Arbeiterbewegung eher sozialstaatlich verfasst ist, als sozialkapitalistische Demokratie. Zumindest diejenigen, die diese derzeit höchste Entwicklungsstufe bürgerlicher Demokratien noch nicht für das Ende der Geschichte halten, sollten jedoch ihr Ziel klar als sozialistische Demokratie bezeichnet werden. Für solche Differenzierungen sehen aber weder Schirrmacher noch seine Kritiker eine Notwendigkeit. Denn die jeweiligen Adjektive vor dem Begriff Demokratie würden transparent machen, welche Demokratie Schirrmacher durch den spekulativen Finanzkapitalismus gefährdet sieht und welche sich diejenigen vorstellen, die „mehr Demokratie“ fordern.

Eine sozialistische Demokratie ist für mich eine Wirtschaftsdemokratie, deren Kontrollbefugnis mindestens so weit geht, dass die kriminelle Ökonomie durch kriminalpräventive Formen der Mitbestimmung in Konzernen auf ein gesellschaftspolitisch beherrschbares Minimum zurückgedrängt werden kann. Schirrmachers Kapitalismuskritik richtet sich jedoch nicht nach vorn. Von Wirtschaftsdemokratie ist bei ihm keine Rede. Und seine Kapitalismuskritik richtet sich auch nicht gegen den Kapitalismus als System, sondern gegen die logische Weiterentwicklung des Kapitalismus von der Marktkonkurrenz der Realwirtschaft zur Machtkonkurrenz des oligopolistischen Finanzkapitals. Letztere beginnt bei ihm erst mit dem am Ende des Kalten Kriegs einsetzenden – von Computerprogrammen gesteuerten, sich weit oberhalb der Realwirtschaft bewegenden (sie aber zerstörenden) – finanzkapitalistischen Spekulation. Bemerkenswert, dass in seinem Buch kein Ort häufiger genannt wird als die „Wallstreet“. Diese aber steht bei ihm meist stellvertretend für „die Nummer 2“, der von ihm zum „Monster“ stilisierten und als „BIG Data“ beschriebenen Maschinerie, die alle Daten, die sie über den Homo sapiens irgendwo abgreifen kann, sammelt, verwertet und zu Geld zu machen versucht.

Was ist das Neu am alten Hut?

Ich habe von dem alten Hut gesprochen. Was ist das Neue an diesem alten Hut? Dass Schirrmacher den „Albtraum der Menschheit“, es könnten irgendwann „Maschinen die Kontrolle über unsere Welt übernehmen“ als reale Bedrohung sieht, und zwar „als elektronischen System finanzieller Transaktionen“, ist zwar auch nicht so ganz neu, neu ist aber, dass er nicht einfach die oberen Zehntausend verantwortlich macht, die von Heerscharen zu geistigen Marionetten degradierten Legionären verzweifelt nach neuen Anlagesphären und Gewinnmöglichkeiten suchen lassen, sondern uns alle, auch noch den letzten Nutzer eines Laptop oder Handys, für ihr Geschäft instrumentalisieren. Wir bauen uns monströsen Maschinen, die unseren Egoismus fördern und uns zu gläubigen Ökonomisten entwickeln, Maschinen, die uns zu noch größeren Egoisten machen. Das von Schirrmacher ausgemachte, Individuen wie ganze Gesellschaften bedrohende „Monster“ ist also nicht mehr der „Wucherjude“, auch nicht mehr der anarchische „Liberalismus“, nicht einmal mehr der noch immer als Gespenst umherirrende (und als jüdisch definierte) Marxismus, sondern die von ihm so getaufte „Nummer 2“.

Als „Nummer 2“ objektiviert Schirrmacher den zur Maschine mutierten Homo oeconomicus. Schirrmacher verrät uns jedoch selbst, wie wenig hinter alledem steckt, was er schreibt: „Dieses Buch basiert auf einer einzigen These.“ Sie würde, sagt er, neuerdings von einigen Renegaten (er kann damit nur kapitalistisch gewendete Marxisten meinen, die er aber nicht namhaft macht) unter der Überschrift „ökonomischer Imperialismus“ diskutiert. Das ist für ihn die Übertragung und Anwendung von Gedankenmodellen der Ökonomie auf alle anderen Sozialwissenschaften. Mit der (wie eine Pflichtübung anmutende, schnell noch und in Klammern gesetzten) Anmerkung, „die imperialistischste ökonomische Theorie“ sei „bekanntlich der Marxismus“(S.15), lenkt Schirrmacher geschickt davon ab, dass er selbst diesen von ihm angeblich bekämpften „ökonomischen Imperialismus“, nun in Gestalt der „Nummer 2“, zu einem neomythischen Wesen hochstilisiert, zum einem Monster überhöht, das mich - abwechselnd – mal an den „Prager Golem“, mal an den „Übermenschen“ Nietzsches erinnerte.

Indem er den spekulativen Finanzkapitalismus zum Ausgangspunkt seiner Idee, dieses Buch zu schreiben, erklärt, daraus jedoch eine umfassende Kritik an der „rational choice-theory“ und der Spieltheorie geworden ist, entsteht zunächst der Eindruck, er habe nur eine Schreckenskulisse aufgebaut, die die an Horrorgeschichten gewöhnte Gesellschaft als Kaufanreiz erwartet. Tatsächlich ist das Problem an vielen Stellen derart überzeichnet, dass es mich nicht wundert, wenn viele seiner Kritiker den Autor nicht ernst zu nehmen bereit sind. Doch spricht er Probleme an, die sehr ernst genommen werden müssen. Man denke nur an den soeben aufgedeckten Daten-Missbrauch durch die NSA (drei Buchstaben, die einen, der noch den NS-Staat und die SA erleben musste, an eine grauenhafte Vergangenheit erinnern). Hier ist aber die Nationale Sicherheitsbehörde der USA gemeint, von der viele noch immer glauben oder uns weismachen wollen, sie sei ein Bollwerk der Verteidigung bürgerlicher Freiheitsrechte. Wenn Schirrmacher, und so sieht es aus, hierin eine der Hauptgefahren für den demokratischen Sozialstaat bzw. die sozialkapitalistischen Demokratien sieht, hat er recht.

Schirrmacher sieht sehr richtig, dass die Computerisierung des Wirtschaftslebens auf nahezu alle Lebensbereiche übergreift und einem Strukturwandel der Öffentlichkeit vorantreibt, der an den Kalten Krieg erinnert. Aber nun ist der Feind aus seiner Sicht nicht mehr der kommunistische „Ostblock“, sondern die „Ostküste“, die bei ihm aber auf das Kürzel „Wallstreet“ reduziert ist. Ausgerechnet diejenigen, die den Versuch der deutschen Faschisten verhinderten, die westlichen Demokratie als Todfeinde der Deutschen niederzuringen und gegen sie und den Kommunismus ein 1000jähriges Großreich zu errichten, die nach 1949 als Bollwerk gegen den Kommunismus und Garant der bürgerlichen Freiheiten agierten und ermöglichten, im reaktionären Deutschland in eine sozialkapitalistische Demokratie zu implantieren, und dies erfolgreich mit einem hohen Anteil an alten Nazis in Wirtschaft und Politik, Verwaltung und Justiz, Polizei und Militär, Wissenschaft und Kultur, werden nun zur Gefahr für diese Demokratie, für diesen Kapitalismus.

„Je ein Kapitalist schlägt viele tot“

Warum also diese Demokratie nicht gegenüber dem Finanzkapitalismus verteidigen, warum stattdessen mehr Demokratie fordern? Dass der Einsatz algorithmengesteuerter Computer (die Nummer 2) im Kalten Krieg (Schirrmacher erinnert an das Abwehrsystem SDI) mit dazu beigetragen hat, die hoffnungslose Unterlegenheit der UdSSR auf dem Gebiet der Rüstungstechnologie zu demonstrieren, ist wahr, aber kein hinreichender Grund, damit – wie es Schirrmacher tut - den Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus mit dieser zur allmächtigen Mega-Maschine zu erklären. Diese monströse Maschinerie „Nummer 2“, ob damit der hegemoniale Computer selbst oder der mit ihm eins gewordene Mensch gemeint ist, ist bei Schirrmacher nicht mehr zu unterscheiden, ist die nach dem Faschismus und nach dem Kommunismus neue Gefahr.

Aber das Opfer, auch wenn es letztendlich wir alle sind, ist bei genauerem Hinsehen für Schirrmacher doch immer noch der sich einst von Juden und Kommunisten bedroht fühlende Kapitalist der Realwirtschaft, der nämlich das schaffende Kapital repräsentiert und der nach dem gescheiterten Faschismus und dem Sieg der kapitalistischen Demokratien über den realsozialistischen Kommunismus nun das Opfer eines zweiten Kalten Krieges zu werden droht oder schon ist. Denn nach dem politischen Kalten Krieg der Systeme beginnt nach Schirrmacher ein systemimmanenter, ein innerkapitalistischer Kalter Krieg. Marx brachte ihn im Kapital (Band 1) auf die Formel: „Je ein Kapitalist schlägt viele tot.“ Und er meinte damit nichts weiter als das in der Logik der Konkurrenzwirtschaft liegende Prinzip der Akkumulation und Konzentration des Kapitals. Dass die Kapitalkonkurrenz auch den Prozess der wissenschaftlichen und technologischen Innovationen vorantreibt, weiß also inzwischen jeder, am besten der Kapitalist selbst.

Und dass dieser Krieg nicht nur gegen die, die über kein oder kein nennenswertes Kapital verfügen, sondern auch zwischen den Kapitalfraktionen mit allen nur denkbaren Mitteln, bis hin zu schwersten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verbrechen geführt wird, muss uns ja Schirrmacher nicht noch einmal ausdrücklich beweisen. Dieses Wissen darf er seinen Lesern unterstellen. Doch es ist schon wichtig festzustellen und dafür Belege zusammenzutragen, wie es dazu kam. Dass nach dem Ende des Kalten Krieges, des Kalten Krieges zwischen zwei konkurrierenden Gesellschaftsmodellen, man sagt auch Systemen, der vom „demokratischen“ Kapitalismus gewonnen wurde, sich nun in einen innerkapitalistischen Kalten Krieg verwandelt, der mittels eines Informationsmonopols auf Manipulation des Gegners, der Geschäftspartner, der Arbeitnehmer, der Kunden beruht, denn es im Notfall, und der ist nun einmal der Normalzustand in einer globalisierten, deregulierten Weltwirtschaft, einfach nur auszutricksen, zu betrügen oder gewaltsam zu unterwerfen gilt.

Ist der Krieg der Vater aller Dinge?

Im politischen Kalten Krieg gegen den Kommunismus - übrigens eine Binsenweisheit – konnte unterstellt werden, dass jede Seite nur auf den eigenen Vorteil aus war. Dank des durch diesen globalen Konflikt forcierten wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der hier darin bestand, dass für die moderne Computertechnologie spieltheoretische Programme entwickelt wurden, die den Menschen, also den homo sapiens  (Schirrmachers „Nummer 1“) als Strategen ersetzen. Diese Strategen ließen dem Feind ständig manipulierte Informationen zukommen, die ihm seine Unterlegenheit klarmachten, so dass am Ende der Zusammenbruch des gegnerischen Systems erfolgte. Dieses Modell des zur Maschine mutierten „Homo oeconomicus“ (Schirrmachers „Nummer 2“) wurde – so Schirrmacher - nach seiner Karriere im Kalten Krieg nicht ausgemustert, sondern von seinen nun von Arbeitslosigkeit bedrohten Experten (des Pentagon etc. und des Silicon Valley) in die Finanzindustrie (die Hedgefonds und in die Wallstreet etc.) hineingetragen und zur spieltheoretischen Steuerung (sprich Manipulation) der Aktienmärkte und zur Ausplünderung der Kleinaktionäre, Häusle-Käufer, Altersversorgungsanleger, anderer Versicherter und Kreditnehmer mit all den Folgen für die Sozialen Sicherungssysteme und das Vertrauen des Bürgers in die Demokratie benutzt.

Damit kann man sich dann aber auch – natürlich nur, wenn man glaubt, dass es wirklich so war und ist - als Leser bzw. Leserin der Schirrmacher’schen Spieltheorie alles Weitere hinreichend selbst erklären. Trotzdem sagt uns der Autor noch einmal ausdrücklich und macht uns damit auf etwas aufmerksam, was nach seiner Meinung bisher außer ihm noch niemand aufgefallen ist: „Die deutsche Öffentlichkeit….merkte nicht, dass die Waffe des Kalten Krieges sich (nach dem Ende des Kalten Krieges – HS) in etwas verwandelte, was man ‚Neoliberalismus’ und ‚Informationsökonomie’ nannte, und dass sie gerade im Begriff war, sich gegen die großen Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft zu richten.“(S.73)  Damit ist – mit Schirrmachers eigenen Worten – alles gesagt, was über den Plot des Buchs zu sagen ist. Aus meiner Sicht der uninteressanteste Teil des Buches.

Aber es enthält darüber hinaus sehr viele hoch interessante Informationen über Prophezeiungen, Ratio, soziale Physik, Massaker, Nervensysteme, Androiden, Gehirn und Gene, Schizophrenie bis hin zum Massenwahn und – so auch der Buchtitel – das Ego. Alle Themenfelder sind angereichert mit Schirrmachers Assoziationen, Kenntnissen über spieltheoretische Manipulationen und Science-Fiction-Visionen. Dazwischen mischt der routinierte Bestseller-Autor viel Gescheites, Witziges, Anregendes und - wichtig, denn ich möchte nicht zu seiner Überschätzung verführen – auch viel erschreckend Dummes (vor allem über Marx, den er endlich einmal gründlich lesen sollte). Das alles verleiht (behaupte ich) seinem neuen Buch einen durchaus preisgerechten Gebrauchswert und dem Autor einen weiteren Sieg auf dem umkämpften Büchermarkt für unterhaltsame Ablenkung von dem wirklichen Problemen unserer Epoche, der kriminellen Ökonomie.

Was er ausgeblendet hat

Die Nagelprobe auf das, was jenseits aller Probleme, die der Kapitalismus als System und der Kapitalist mit sich selbst und seinesgleichen hat, besteht Schirrmachers Buch nicht. Vor allem die kriminelle Seite der Ökonomie, die ihn doch angesichts der gigantischen Betrügereien, bei denen vor allem Banken und Börsen eine große Rolle spielen, interessieren Schirrmachers nicht. Und dies, obgleich kaum ein anderer systemimmanent-kapitalismuskritischer Ansatz als der Seine besser geeignet wäre, den bisher weitgehend aus der öffentlichen Kapitalismuskritik ausgeblendeten Prozess der Globalisierung eines sich immer enger vernetzenden Untergrundkapitalismus zu untersuchen. Offiziell wird dieses Problem nach wie vor mit der Schwarze-Schafe-Theorie vom Tisch gewischt oder – wie von Schirrmacher – gar nicht erst thematisiert.

Dass gesetzestreue Produzenten (hier Arbeitgeber und Beschäftigte als systemische Organisationseinheit betrachtet) Waren und Dienstleistungen mit hohem Gebrauchswert erzeugen und damit entscheidend zur Steigerung der Lebensqualität beitragen, braucht sicher nicht ausdrücklich bewiesen zu werden. Doch weit über die Gesellschaften mit kapitalistischen Demokratien hinaus ist - und dies spätestens seit Marxens Kritik der politischen Ökonomie - auch klar, dass der Kapitalismus als System, selbst wenn es nicht einen einzigen Kapitalisten gäbe, der gegen die zum Erhalt und Schutz seines Systems geltenden Gesetze verstößt, eine Gefahr für Mensch und Natur bliebe. Denn der Kapitalismus, ob als Diktatur oder als Demokratie, ist ein auf Zerstörung und Vergeudung (euphemistisch als Wachstum gefeiert) basierendes Ausbeutungssystem. Und wohin weicht das Kapital aus, wenn die Kräfte zu stark werden, die es daran hindern wollen zu wachsen? In kapitalistische Diktaturen, die Gewerkschaften und Lohnkämpfe verbieten, die Kinderarbeit und Menschenhandel dulden, und die kapitalkritische Demokratiebewegungen - auch solche, die nur einen demokratischen Kapitalismus wollen - systematisch unterdrücken, die Löhne und Gehälter diktieren, die wucherische Preisbildung dagegen zu den Freiheitsrechten zählen.

Diktaturen sind beliebte Zufluchtstätten von Großinvestoren. Es gäbe sicher bis heute nur kapitalistische Diktaturen, wenn es keine sozialistische Arbeiterbewegung gegeben hätte, die in Europa und in anderen ehemals kapitalistischen Diktaturen sozialistische Demokratien durchsetzten wollten. Was dabei herauskam, waren Klassenkompromisse, die wir als sozial-kapitalistische Demokratien bezeichnen sollten. Aber auch in diesen bleibt die Arbeitskraft eine Ware. Hier freilich eine freie Ware. Offiziell sind Sklaverei, Leibeigenschaft, Arbeitslager etc. in kapitalistischen Demokratien gesetzlich verboten. Doch wozu gibt es noch die „Dritte Welt“? Freiheitliche und sozialstaatliche Demokratie bedeutet, dass der Preis einer Arbeitskraft, also der Lohn, das Gehalt (mit Nebenkosten), zumindest der Theorie nach, vom Markt bzw. den Tarifparteien (Arbeitgeber und Gewerkschaften) nach strengen Spielregeln ausgehandelt, also nicht von Schirrmachers Nr.2 ermittelt wird. Dazu verliert der Bestsellerautor kein einziges Wort. Hier würde Adorno sinngemäß sagen: Wovon eine Theorie absieht, macht ihre Qualität aus.

Schirrmacher schweigt auch darüber, dass in der Praxis der von ihm als bedroht erkannte Sozialkapitalismus, die sozialkapitalistischen Demokratien, die er als realwirtschaftliche soziale Marktwirtschaften verklärt, ganz anders aussieht, als er von denen dargestellt wird, die ihn retten oder – weil sie ihn schon für verloren halten - wieder haben wollen. Denn der Markt, das unberechenbare Wesen, dass hinter dem Rücken seiner Teilnehmer (zu denen auch der gesetzgebende und regierende Staat, ja sogar die als unabhängig deklarierte Justiz gehört) als der eigentliche Gesetzgeber fungiert, wird nicht vom Sozialstaat stranguliert, wie die Liberalen behaupten, er ist auch nicht der Feind der freien Wirtschaft, sondern als Sozialstaat dessen Herz-Lungen-Maschine. Ohne staatliche Umverteilungspolitik (Ausbeutung zugunsten der Reichen) würde der sozialstaatliche Kapitalismus – auch ohne Nr.2 – sang- und klanglos absterben.

Der Staat würde dann wieder als bloße Schutzmacht die bekannten inneren und äußeren Feinde des Eigentums bekämpfen und – was er ja schon immer tut - in Krisenzeiten den Untergang systemrelevanter Wirtschaftsfaktoren unter die Arme greifen. Den Markt der freien Konkurrenz und des fairen Wettbewerbs gibt es – falls es ihn je gegeben haben sollte – mit Sicherheit längst nicht mehr. Nirgends auf der Welt. Aber wie die Theologie ohne Gott, lebt auch die Ideologie der Marktwirtschaft ohne freie Märkte sehr gut. Märkte gibt es, aber die kriegsentscheidenden werden in hohem Maße von Monopolen und Oligopolen beherrscht und gelenkt. In deren Chefetagen sitzen diejenigen, die Schirrmachers hinter der „Nummer.2“ versteckt, indem er diesen Code in einer Weise mystifiziert, dass sich sein Erfinder lächerlich macht. Ob bewusst oder unbewusst, es interessiert ihn nicht, wer die entscheidenden Akteure hinter seiner „Nummer 2“ eigentlich sind. Selbstverständlich würde er jedem widersprechen, der ihm sagte, auch er sei einer von ihnen.

Richtig, er ist einer von den weniger großen Akteuren, Aber er dreht mit den Zeitungen (off- und online) und seinen Büchern kräftig mit an den Stellschrauben der großen Manipulationsmaschine, sogar mit seiner mystifizierenden Kritik an ihr. Denn ich sehe auch in diesem Buch Schirrmachers, wie in seinen früheren, zum Beispiel das mit dem Titel: „Das Methusalem –Komplott“, nur einen weiteren Versuch, deren Opfer noch mehr zu entmündigen als sie es schon durch die Macht derer sind, die ihre ganz alltäglichen Wirtschaftsinteressen durchzusetzen versuchen, geschweige denn durch die, die von Schirrmachers Trauma „Nummer 2“ kontrolliert werden. Diese Oligopolisten und Monopolisten der Märkte und der Bewusstseinsindustrie – nicht die Staaten – sind es, die man als Feinde der Märkte vorführen muss. Die Marktmacht ist daher eine relativ feste, berechen- und  durch wenige spekulierende Großanleger beeinflussbare Größe. Die  kleinen EGOs zu Mittätern machen zu wollen, ist, wie die bürgerlichen Moralisten zu den „Steuersündern“ zu sagen pflegen, „unanständig“.

Die algorithmisch gesteuerte Siegesmaschine

Die „Nummer.2“ Schirrmachers hat, wie er selbst behauptet, entscheidend zum Sieg über die kommunistisch regierten Staaten beigetragen. Diese waren durch revolutionäre Klassenkämpfe der europäischen und internationalen Arbeiterbewegung nach den beiden Weltkriegen in unterentwickelten Regionen der Welt gegen rückständige Feudalsysteme gewaltsam durchgesetzt worden. Doch obgleich die Kommunisten zunächst einmal nichts weiter versuchten, als die fremdverschuldete Unmündigkeit der Massen durch Entmachtung der damaligen Feudal-Diktatoren und patriarchalischen Kapitalisten eine breit angelegte Volksbildungs-, Gesundheits- und Entwicklungspolitik voranzutreiben, wurden sie niedergerungen. Kapitalistische Diktaturen jedoch nicht. Sie wurden von den freiheitlichen Demokratien geschützt oder sogar, wie General Pinochet, an die Macht gebracht, um auf jeden Fall Erfolge einer frei gewählten sozialistischen Regierung zu verhindern. Alles Siege der „Nummer 2“?

Dann hat „Nummer 2“ aber auch, was Schirrmacher ebenfalls ausblendet, die Arbeiterbewegung der kapitalistisch gebliebenen Staaten Europas niedergerungen. Denn wie sonst ließe sich der desolate Zustand der großen europäischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften erklären? Die durch erbitterte Klassenkämpfe vor allem des 20. Jahrhunderts entstandenen Kräfteverhältnisse in den kapitalistischen Demokratien wurden schon vor dem Zusammenbruch des Ostblock im Westen unter dem Namen Privatisierung ganz im Geiste des ökonomischen Imperialismus verschoben. Danach wurde diese Politik unter neuem Namen, nämlich Globalisierung, in den ehemaligen kommunistischen Staaten fortgesetzt. Privatisierung, Deregulierung und Sparpolitik zum Nachteil derer, die über kein oder kein nennenswertes Kapital verfügen, hat die antikapitalistischen Widerstände, und mit diesen die sozialkapitalistischen Demokratien des Westens gebrochen. Wäre es, wenn Schirrmacher der wäre, für den er von den meisten seiner bürgerlichen Kritiker aufgrund dieses Buches gehalten wird, nicht besser gewesen, er hätte die systematische Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme durch „Nummer 2“ angeprangert? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, die kriminellen Methoden aufdecken zu helfen, mit denen heute Finanzmarktspezialisten, auch ohne Spekulationsmaschinen, und Realkapitalisten ihre Ausbeutung nahezu ungestraft betreiben?  

Doch für solche handfesten Probleme ist sich der kluge Schirrmacher offensichtlich zu gut. Er weiß selbstverständlich, dass sich der spieltheoretische Ansatz der systemkonformen Kapitalismuskritik hervorragend zur Bekämpfung der Wirtschaftsverbrechen eignen würde. An der Stelle auf Seite 286, wo er plötzlich schreibt: „Zeit, an den Ausweg zu denken“ und ihm nichts besseres einfällt als zu empfehlen: „nicht mitspielen“, hätte der klügste Kopf, der hinter seiner klugen Zeitung steckt, sich mit der Demokratisierung der Versicherungen, Banken, Börsen und anderer überwiegend auf Finanzspekulation spezialisierten Wirtschaftsunternehmen, der Demokratisierung der Konzerne, beschäftigen sollen. Er hätte versuchen können, die Frage zu beantworten, wie man – zum Beispiel durch kriminalpräventive Mitbestimmung, die über die gewerkschaftliche hinaus zivilgesellschaftliche Organisationen wie Attac, Blockupy, vor Ort vorhandene Bürgerinitiativen in institutionalisierte Kontrollorgane einbezieht – die Zerstörung unserer sozialstaatlichen Demokratien, unserer natürlichen Umwelt, unserer Gesundheit durch Wirtschaftsverbrechen stoppen kann. Wie man die Waffengeschäfte, wenigstens die illegalen, wirksam verhindern kann. Doch von diesen Problemen lenkt Schirrmacher ab, fokussiert die Aufmerksamkeit auf eine Maschinerie, die genauso gut gegen Kapitalverbrechen eingesetzt werden könnte wie zu ihrer Begehung. Oder für eine bessere als im Realsozialismus funktionierende Planwirtschaft, eine Möglichkeit, auf die Hans Jürgen Krysmanski in seinem Buch über das Imperium der Milliardäre (siehe meine Rezension in BIG 2-2013) vorsichtig hingewiesen hat.

Dass der kluge Schirrmacher sich diese Gedanken verkneift, macht ihn – der uns doch als Lösung des von ihm so eindruckvoll dargestellten Problems empfiehlt, einfach das Spiel nicht mitzuspielen - selbst zum gedankenlosen Mitspieler, zur Marionette. Als Marionette beschimpft er alle anderen Mitspieler. Aber mit solchen Vorwürfen kann man ihn nicht treffen, dazu ist er doch wieder zu klug. Vorsorglich hat er schon auf der Rückseite des Buchumschlags das Spiel seines EGO verraten: Nichts, was ich sage, bedeutet, was es heißt.

(Veröffentlicht in BIG Business Crime Nr.3-2013)