Hans See
über
Jean Ziegler,
Die Schweiz, das Gold und die Toten
München 1997, 315 Seiten
Jean Ziegler, leidenschaftlicher Schweizer, lässt in seiner Hassliebe zur Eidgenossenschaft keine Gelegenheit aus, seinen Landsleuten, deren Mehrheit es offenbar liebt, nur die Schokoladenseite ihres Landes zur Kenntnis zu nehmen, vor allem die bitteren Wahrheiten über die Schweiz zu unterbreiten. Dass dabei der Wahrheitsbegriff ins Schussfeld der Kontrahenten gerät, kann nicht überraschen.
Nun hat sich Ziegler zu einem der größten Wirtschaftsverbrechen geäußert, die in diesem Jahrhundert in seinem Land und durch sein Land geschehen sind - zu den Geschäften mit dem Nationalsozialismus. Die Tatsache selbst ist längst bekannt. Schon 1945 lagen die Beweise auf der Hand. Doch dann kam der Kalte Krieg und es wuchs der Bedarf, die Werte der freiheitlichen Demokratie hochzupreisen. Also herrschte Omerta, das große Schweigen.
Erst im Jahre 1986/87 kam wieder ein Dokument, diesmal über Ausmaß und Wert der Geschäftsbeziehungen zwischen der Schweiz und dem Deutschen Reich, zutage. Ein Schweizer Student hatte das Papier im Schweizerischen Bundesarchiv entdeckt und dessen Inhalt in einem Seminar des bekannten Historikers Walther Hofer an der Uni Bern vorgetragen. Der Wirtschaftshistoriker Willi A. Boelcke veröffentlichte 1977 und 1983 Arbeiten über die internationale Goldpolitik des NS-Staates, in denen auch diese Tatsachen verarbeitet wurden. Aber erst die Studie von Werner Rings, die 1985 zum ersten Mal erschien und nun, 1996, wieder aufgelegt wurde, hat tatsächlich dieses Thema adäquat aufbereitet (vgl. die Besprechung von Werner Rügemer in Business Crime 1/1997).
Auf das Buch von Rings hat Jean Ziegler in seinem Buch zum Nazigold ausdrücklich hingewiesen. Er widmet sogar Rings eine Würdigung, indem er schreibt: "Werner Rings, heute sechsundachtzigjähriger Rentner im Tessin, hat in diesem Zusammenhang eine große und nützliche Arbeit geleistet. Er hat aus bereits vorhandenen Sekundärquellen eine wichtige Darstellung der Raubgold- Problematik verfasst. Dazu hat er selbst noch andere Quellen erforscht. Sein zuerst deutsch vor zwölf Jahren erschienenes Werk Raubgold aus Deutschland verdient Hochachtung.“
Ziegler hebt hervor, dass Rings, der 1910 in Offenbach geboren wurde, als überzeugter Antifaschist aus Deutschland floh und in die französische Fremdenlegion ging, später Schweizer Bürger wurde und als Journalist versuchte, einen Beitrag zur Bewältigung der helvetischen Kriegsvergangenheit zu leisten.
Warum hat Ziegler nun ein eigenes Buch zu diesem Thema geschrieben? Ein Vergleich beider Bücher macht das deutlich. Rings geht allzu schonend mit dem Schweizer „Bankenbanditismus" um. Als Ziegler auf das belgische Raubgold zu sprechen kommt, betont er selbst den für ihn wichtigen Unterschied zu Rings. „Was das belgische Raubgold anbelangt, interpretiert er die beiden Standarduntersuchungen von Arnoult und Kauch anders als ich. Er billigt den Bankoberen in Bern und Zürich sowie der damaligen Eidgenössischen Regierung zu, in gutem Glauben gehandelt zu haben.“ Ziegler sagt: „Ich nicht.“
Diese Differenz zwischen dem Buch von Werner Rings und Jean Ziegler ist sicher für die meisten Leser ganz bedeutungslos. Nicht für Jean Ziegler. Bei ihm stehen die Oberen der Schweiz - damals wie heute, bis das Gegenteil bewiesen ist - unter Generalverdacht. Auch in der Sache „Raubgold" geht er davon aus, dass alles eher noch viel schlimmer war.
Und so schießt er mehrfach mit seinen zweifellos auf fundiertem Wissen und schmerzlichen eigenen Erfahrung beruhenden, aber oft nicht wirklich bewiesenen und vielleicht auch niemals beweisbaren Äußerungen weit über das wissenschaftlich Erlaubte hinaus.
Er wird zum Journalisten, zum Politiker, zum engagierten Schriftsteller, zum großen sozialistischen Polemiker.
Denn alles dies ist er ja auch. Und weil er diese Rollen, vor allem, wenn es um das lange Sündenregister der Schweizer Gnomen, den Bankherrn, geht, nicht konsequent auseinanderzuhalten bereit ist, sondern sie - wenn es denn sein muss - mitten im Satz wechselt, ist er natürlich sehr leicht angreifbar.
Die sogenannte bürgerliche Kritik macht sich bekanntlich mit Vorliebe an der Form zu schaffen. Wird ordentlich zitiert? Werden sachliche und distanzierende Begriffe verwendet? Was haben Schimpfkanonaden, moralische Entrüstung, polemische Äußerungen in einem wissenschaftlichen Werk zu suchen. Inhaltliche Kritik bezieht sich eher auf Details. Die wesentlichen Inhalte, die Antwort auf die Frage, ob der schweizerisch-calvinistische Geist des Kapitalismus zur Verlängerung des Zweiten Weltkrieges und zur Erhöhung der Zahl der Naziopfer beitrug oder nicht, wird nicht sehr ernsthaft problematisiert. Detail- und Formkritik soll die problematischen Inhalte vergessen machen.
Mit seinen unorthodoxen Subjektivismen erleichtert Ziegler seinen Gegnern die Kritik. Aber auch, weil er bei der Fülle der Informationen, mit denen er seine Argumentationen spickt, immer wieder völlig unnötige Fehler macht. Ein gewisser Thomas Meissen, der ihn in der Neuen Zürcher Zeitung (vom 26 März 1997) heftig kritisiert, verweist deshalb zunächst einmal genüsslich auf Zieglers „Großzügigkeit in den schnöden Einzelheiten“. Er erinnert daran, dass ZwingIi gar nicht - wie Ziegler behauptet - von Calvins 1536 veröffentlichtem Werk „Christliehe Institutionen“ beeindruckt gewesen sein konnte, weil Zwingli schon 1531starb. Man könnte nun auch an Meissen herumnörgeln und berichtigen: Er fiel an der Front.
Ziegler hätte statt Zwingli nur Zwinglianer schreiben müssen, die von Calvins Werk beeindruckt gewesen seien, und schon wäre sein Argument nicht angreifbar und die Möglichkeit, mit Hilfe solcher Fehler gleich einleitend den Wert der ganzen Arbeit in Zweifel zu ziehen, nicht gegeben gewesen.
Tatsächlich macht es sich Ziegler aber auch mit der Herleitung der Schweizerischen Raffgier aus dem kapitalistischen Geist des Calvinismus viel zu leicht. Denn eben dieser ist ja nach Max Webers Theorie gerade nicht identisch mit dem Abenteuer- und Raubkapitalismus, sondern einzig darauf gerichtet, durch Fleiß, Sparsamkeit und asketische Lebensführung zu wirtschaftlichem Erfolg, zu Reichtum als dem Zeichen möglicher Vorbestimmtheit zu gelangen. Wo dieser Geist verlassen wird, wie im von Ziegler so genannten Schweizer Bankenbanditismus, haben wir es nicht mehr mit dem calvinistischen, sondern wieder mit dem klassischen Räuberkapitalismus zu tun.
Ziegler meint, er hätte das Buch gar nicht geschrieben, wenn „die helvetische Herrschaftsklasse 1945 Reue und Einsicht gezeigt“, „sich für ihre Mittäterschaft, ihre Verbrechen entschuldigt“ hätte. Aber das Gegenteil sei geschehen. „Aus ihrem Versagen während der Kriegszeit haben sie eine Monumentallüge konstruiert. Diese Lüge versperrt den Horizont der schweizerischen Geschichte bis heute.“ Was sind, so muss man Zieglers Kritiker - auch wenn deren Einwände berechtigt sind - fragen, Zieglers Irrtümer, anzweifelbare „plausible Hypothesen“, unbewiesene Behauptungen gegen das wahrhaft monumentale Lügengebäude, das die Schweizer Gnomen mit Hilfe großer Teile der politischen Klasse und Teilen der Medien um ihre kriminellen Geschäfte errichten?
Ziegler lobt die übrigen Europäer, vor allem die Franzosen und die Deutschen, die ihre Nazivergangenheit besser als die Schweizer aufgearbeitet hätten. Als Deutscher sieht man das auch etwas kritischer. Aber wahr ist schon, dass es in Deutschland um die sogenannte Vergangenheitsbewältigung etwas besser bestellt ist als in der Schweiz.
Zieht man die angreifbaren Fehler ab, bietet Zieglers Buch eine ungewöhnliche Fülle von wichtigen und auch richtigen Informationen. Ziegler hat viele Dokumente gesichtet, die Rings nicht (oder noch nicht) zugänglich gewesen sind. Und der Soziologe des Dritte-Welt-Labors der Universität Genf ist ein hervorragender Afrika- und Frankreich-Kenner, was sich in den Kapiteln bemerkbar macht, in denen es um diese Länder geht. Auch kommt ihm bei der Darstellung der Probleme und der Erklärung ihrer Hintergründe seine politische Erfahrung als Schweizer Nationalrat und Mitglied der Sozialistischen (das heißt Sozialdemokratischen) Internationale zugute.
Wer die Informationen und das Hintergrundwissen, die Zieglers Buch auch dann noch äußerst lesenswert machen würden, wenn es weniger brillant geschrieben wäre, gründlich studiert, gewinnt nicht nur eine bessere Übersicht über dieBedeutung der Schweiz für den deutschen Faschismus und den Zweiten Weltkrieg. Er weiß auch viele interessante Details über die Schweizer Demokratie, ihre Banker, Volksvertreter und Regierungschefs. Er erfährt hochinteressante Dinge über die Schweizer Eliten, ihre Sozialisation, ihre Religion, ihre Funktion, wichtiges über die Schweizer Innen-, noch wichtigeres über ihre Außenpolitik. Er kennt dann auch eine Reihe wichtiger Aspekte des schweizerischen Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus.
Unvergleichlich, wie Ziegler die in der Öffentlichkeit kaum bekannten Zusammenhänge zwischen dem Zustandekommen bestimmter Berichte (wie des britischen Rifkin-Reports) und dem Erdbeben am Zürcher Paradeplatz" erklärt, unverwechselbar, wie er die Interessenlagen und -verflechtungen der Schweizer mit der internationalen Wirtschaft einsichtig zu machen vermag. Es lohnt sich aber besonders, daneben, am besten vergleichend, die wieder aufgelegte Studie von Rings zu lesen.
Beide Autoren haben sehr verschiedene Schreibstile, setzen verschiedene Akzente und kommen doch in den meisten Grundsatzfragen zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Beide Bücher haben - allerdings verzeihliche - Schwächen, sie ergänzen sich und sind hervorragende Beiträge zum gesellschaftspolitisch immer wichtiger werdenden Thema business crime, corporate crime, government crime, political crime, auch wenn sie noch viele Fragen nicht beantworten können.